5.11.18

Eine Religion für Einfältige

„In jenen Tagen ergriff Jesus das Wort und sprach: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dies vor Weisen und Klugen verborgen, es Einfältigen aber offenbart hast. Ja, Vater, so hat es dir gefallen. Alles ist mir übergeben worden von meinem Vater, und niemand kennt den Sohn ausser dem Vater, und niemand kennt den Vater ausser der Sohn und der, dem der Sohn es offenbaren will.“ (Matthäus 11,25-27)

Wie bei sehr vielen Worten von Jesus in den Evangelien ist es auch bei diesem nicht leicht zu erkennen, ob es wirklich von Jesus stammt, oder ob es erst einige Zeit nach seinem Tod von den Verfassern der Evangelien oder älterer Jesusgeschichten Jesus in den Mund gelegt wurde. Die Vorstellung, dass Jesus der Sohn Gottes ist, der den Menschen seinen Vater offenbart, passt meiner Meinung nach gut dazu, wie einige Christen (nicht alle!) nach dem Tod Jesu über Jesus gedacht haben. Dass Jesus selbst vor seinem Tod über sich selbst so gedacht und so von sich selbst gesprochen hat, erscheint mir eher unwahrscheinlich – obwohl wir das natürlich nicht ganz genau wissen. Die Vorstellung, dass Jesus der Offenbarer seines Vaters ist, passt genau genommen auch nicht wirklich dazu, dass Jesus direkt vorher Gott dem Vater dafür dankt, dass er „dies vor Weisen und Klugen verborgen, es Einfältigen aber offenbart hat“, wei es „ihm so gefallen hat“ – und nicht weil Jesus als Sohn es so wollte. Dieses kurze Dankgebet könnte man sich schon eher im Mund des „historischen Jesus“ vorstellen.


In diesem Gebet bleibt allerdings völlig unklar, was „dies“ ist, das Gott den Weisen und Klugen verborgen, aber den Einfältigen offenbart hat. Es scheint, dass damit mehr oder weniger alles gemeint ist, was Jesus gelehrt und gelebt hat. „Verbergen“ und „offenbaren“ ist dabei wohl nicht so zu verstehen, dass den Weisen und Klugen die Lehre und das Leben Jesu verheimlicht wurden. Sie konnten durchaus davon wissen, aber es ist ihnen nicht zur „Offenbarung“ geworden, es hat ihnen nicht eingeleuchtet und ist ihnen nicht eingefahren, es hat sie nicht berührt und hat ihr Leben nicht verändert. Das liegt nicht an ihnen, und Jesus wirft es ihnen auch nicht vor. Ob uns etwas zur Offenbarung wird, uns berührt, einleuchtet, einfährt und unser Leben verändert ist nicht unsere Entscheidung, es geschieht mit uns – oder es geschieht eben nicht. (Mit der klassischen reformierten Dogmatik gesprochen: der Glaube ist ein Werk Gottes, nicht des Menschen.)
 

Wenn wir den Evangelien glauben dürfen, scheinen die Anhänger Jesu tatsächlich zu einem grossen Teil eher einfache und manchmal auch einfältige Menschen gewesen zu sein. Immer wieder wird davon erzählt, dass die Jüngerinnen und Jünger nicht verstanden haben, was Jesus mit seinen Lehren und Gleichnissen sagen wollte und ihn deshalb später im kleinen Kreis noch einmal fragten - oder sich nicht zu fragen getrauten. Oft verstanden sie, was Jesus sagen wollte, erst wenn er es ihnen noch einmal genau erklärte. Aber immerhin, sie verstanden es, während die Weisen und Klugen nichts damit anfangen konnten.
 

Ich nehme an, die Botschaft Jesu war für die Weisen und Klugen nicht zu schwierig und zu anspruchsvoll, sondern vielleicht eher zu schlicht und zu einfach. Die Weisen und Klugen waren es gewohnt, auf schwierige Fragen komplizierte Antworten zu geben. Das ist ja bis heute die Aufgabe von Fachleuten und Wissenschaftlern – und ich finde, man sollte das nicht verachten, sondern wertschätzen und honorieren. Ich habe die grösste Hochachtung vor Experten, die Dinge wissen, von denen ich höchstens einen blassen Schimmer habe. Zum Beispiel kann ich mir höchstens in schwachen Ansätzen vorstellen, wie es funktioniert, dass durch diesen Kirchenraum gleichzeitig tausende Mobilfunkgespräche oder mobile Datenströme fliessen, von denen jeder genau den Empfänger erreicht für den er bestimmt ist, ohne dass es zu einem Datensalat kommt. Ich habe den grössten Respekt vor denen, die bis ins letzte Detail wissen wie das funktioniert oder die sich überhaupt erst ausgedacht haben, wie man so etwas bewekstelligen könnte. Das müssen wahrhaft „Weise und Kluge“ Menschen sein.
 

Warum sollen solche „Weise und Kluge“ Menschen grössere Schwierigkeiten damit haben, die Botschaft Jesu zu verstehen, als „Einfältige“? Vielleicht, weil die Botschaft Jesu nicht zu schwierig für sie war, sondern zu einfach? Ich kann es mir kaum anders erklären! Spielen wir es einmal an einigen Grundelementen der Botschaft Jesu durch.
 

Nach den Evangelien hat Jesus seine Lehrtätigkeit damit begonnen, dass er in Galiläa herumgezogen ist und verkündet hat: „denkt um, ändert euer Denken und Handeln, denn das Reich Gottes ist nahe“. Viele Juden waren damals der Ansicht, dass Gott die Welt der Herrschaft der Weltreiche unterstellt hatte, wie es im Buch Daniel dargestelt wird. Auf die Assyrer folgten die Babylonier, die Meder, die Perser, die Griechen und schliesslich die Römer. Irgendwann einmal aber würde Gott dem letzten Menschenreich ein Ende machen und selbst die Herrschaft über die Menschheit übernehmen (oder die Weltherrschaft einem seiner Engel übergeben). Manche dachten, wenn nur alle Israeliten einmal den Sabbat einhalten würden, würde das Reich Gottes kommen. Oder wenn alle Juden sich an die Reinheitsvorschriften halten würden oder wenn alle genau das mosaische Gesetz befolgen würde.
 

Jesus sah das sehr viel einfacher: wenn ihr anfangt, so zu leben, wie ihr im Reich Gottes zu leben hofft, dann fängt das Reich Gottes an. Hindern euch denn die Römer daran, eure Nächsten und eure Feinde zu lieben, zu segnen, die euch verfluchen, zu lieben, die euch hassen, denen zu vergeben, die euch Unrecht tun? Ihr könnt das, wenn ihr wollt, weil Gott es euch ermöglicht. Das Reich Gottes ist schon da. War das den Weisen und Klugen schlicht zu einfach? Dachten sie lieber darüber nach, ob man in den Heiligen Schriften Hinweise darauf finden könnte, wann das Ende der Weltreiche kommen würde und das Reich Gottes beginnen würde?

Jesus weigerte sich auch, Dinge von vornherein für Unmöglich zu halten. Ein Mensch ist  von einem Dämon besessen? Treiben wir ihn aus! Ein anderer ist blind? Öffnen wir ihm die Augen! Einer kann nicht laufen? Helfen wir ihm auf die Beine! Ein Mädchen ist tot? Wecken wir es auf! Die Evangelien sind voller Wundergeschichten. Es ist verständlich, dass sich die „Weisen und Klugen“ dafür nicht sonderlich begeistern konnten. Ich muss gestehen, dass ich auch manchmal denke, das sind doch eher Geschichten für etwas „einfältige“ Leute, die es nicht besser verstehen. Aber dann denke ich auch wieder: vielleicht lese ich ja diese Geschichten mit einer viel zu intellektuellen Brille. Vielleicht haben sich die einfachen Menschen mit solchen Geschichten vor allem Mut gemacht, sich von Jesus anstecken lassen, nicht zu schnell hinzunehmen, dass etwas angeblich unmöglich ist, sondern beharrlich auszuprobieren, ob nicht doch vielleicht etwas zu machen ist.
 

Was ist in der Geschichte der Menschheit nicht alles für unmöglich erklärt worden. Sklaven sollen die gleichen Rechte haben wie Bürger? Lächerlich! Sklaven sind doch keine vollwertigen Menschen! Frauen sollen abstimmen dürfen wie Männer? Völlig unmöglich! Kranke sollen nicht aus den Häusern gejagt werden und am Rand der Städte und Siedlungen vegetieren, sondern gepflegt und geheilt werden? Wie soll denn das gehen? Arbeiter sollen ein Recht auf regelmässige Ruhetage haben? Wo kämen wir denn da hin? Christen haben sich immer wieder geweigert, die Grenzen des Möglichen zu akzeptieren, welche die Weisen und Klugen herausgefunden haben. Das konnten die Weisen und Klugen nicht verstehen – bis sie den Erfolg der schöpferischen Fantasie der Christen gesehen haben, wenn diese etwa durch Krankenpflege und durch neue Therapien Krankheiten heilen konnten.
 

Das Reich Gottes fängt bei euch an. Wunder sind möglich. Eine weitere Lehre, die den „Weisen und Klugen“ wohl zu einfach war, aber vielen „Einfältigen“ eingeleuchtet hat, könnte man vielleicht so formulieren: soziale und ethnische Grenzen zwischen Menschen sind dazu da, sie zu überschreiten. Es wird immer wieder erzählt, dass Jesus mit einfachen Leuten, mit „Zöllnern und Sündern“ (und Sünderinnen) zusammen gegessen, getrunken und gefeiert hat. Ein Samaritaner, der einem Juden hilft, konnte als Beispiel für „Nächstenliebe“ dienen. Man sollte aber auch seine Feinde lieben und sich in der Synagoge lieber zu den „Sündern“ als zu den Selbst-„Gerechten“ setzen. Jesus liess sich von „Zöllnern“, also von Leuten die mit der römischen Besatzungsmacht kollaborierten und für sie Abgaben einzogen, einladen, und von einer reichen Frau mit kostbarem Parfüm die Füsse waschen. Ich kann mir gut vorstellen, dass die „Weisen und Klugen“ hier mehr Probleme sahen als die „Einfältigen“.
 

Die Nachfolger Jesu in den christlichen Gemeinden haben diese Praxis von Jesus weiter gepflegt. In den christlichen Gemeinden kamen Menschen ganz verschiedener Herkunft, ganz verschiedener sozialer Stellung, mit ganz unterschiedlichen Vermögen und Einkünften und mit ganz verschiedener Bildung zusammen und erachteten all diese Unterschiede für bedeutungslos. Unter den Christen, schreibt der Apostel Paulus im Brief an die Galater, Kapitel 3, „gibt es nicht Jude oder Grieche, nicht Sklave oder Freier, nicht Mann oder Frau. Denn ihr seid alle eins in Christus Jesus.“ Diese Gemeinschaft ohne Rangunterschiede war in der damaligen Konkurrenz- und Prestige-Gesellschaft vor allem für die einfachen Leute attraktiv und interessant, aber nach und nach habe sich auch immer mehr Wohlhabende und Gebildete dazu hingezogen gefühlt. Die Versammlungen der christlichen Gemeinden wurden zu ganz einzigartigen Inseln oder Oasen inmitten einer auf Wettbewerb, Leistung und Ehre fixierten Gesellschaft, in denen Menschen über alle Grenzen hinweg miteinander feiern und miteinander diskutieren konnten.
 
Wenn wir heute nach Wegen suchen, die Kirche wieder zu beleben und ihr wieder eine Bedeutung für die Menschen zu geben, wäre es mindestens einen Versuch wert, an diese Praxis Jesu und der ersten Christen anzuknüpfen: miteinander essen und miteinander trinken, miteinander sprechen, die Sorgen und die Freuden miteinander teilen, das Reich Gottes anfangen lassen und Unmögliches möglich machen. Vielleicht können wir dann auch einmal Gott dafür loben und danken, dass er den Einfältigen offenbart hat, worum es im Leben wirklich geht – und vielleicht lernen es dann sogar auch die Weisen und Klugen von den Einfältigen. Möglich ist alles.