Die Welt
als Schöpfung zu verstehen, heißt nicht unbedingt, der Ansicht zu sein, dass
alles, was es gibt, so, wie es ist, von Gott bzw. den Göttern gewollt ist und
geschaffen wurde. Es gibt z.B. Schöpfungsvorstellungen, nach denen die Welt aus
Urstoffen geschaffen wurde, die der Gestaltungsfreiheit des Schöpfers gewisse
Grenzen setzten, oder nach denen die Welt durch die Bändigung chaotischer
Urmächte geschaffen wurde, die der Schöpfergott besiegt und unschädlich
gemacht, aber nicht völlig vernichtet hat.
Hans Holbein der Jüngere: Die Schöpfung
Nach der
biblischen Darstellung hat Gott die Welt perfekt erschaffen. Aber die Tiere und
die Menschen haben die Freiheit, die Gott ihnen gegeben hat, missbraucht, sind
gewalttätig geworden und haben die ursprünglich sehr gute Welt verdorben. Daraufhin
wollte Gott zunächst alle Lebewesen in einer riesigen Überschwemmung
vernichten, brachte es dann aber doch nicht übers Herz. So erträgt er nun die
Welt in ihrer Unvollkommenheit. Doch hat er seine ursprünglichen Absichten
nicht einfach aufgegeben. Vielmehr versucht er nun, die Menschen dafür zu
gewinnen, sich selbst und die Welt zu verbessern.
In diesem
Sinne ist wohl auch zu verstehen, was Jesus nach den Evangelien über das Reich
Gottes gelehrt hat. Dessen Nähe setzt eine Dynamik frei, die die Menschen und
ihre Beziehungen verwandelt und die Welt verändert. Bei all dem sind die
Menschen nicht passive Objekte des Wirkens Gottes, sondern werden befreit dazu,
als Subiekte an der Veränderung der Welt und an ihrer eigenen Vervollkommnung
mitzuwirken. "Dein Glaube hat dir geholfen", sagt Jesus immer wieder,
wenn er einen Menschen geheilt hat. Und er traut seinen Jüngerinnen und Jüngern
zu, sogar Berge zu versetzen - im Vertrauen auf Gott, der die Welt erneuert und
vervollkommnet, zusammen mit den Menschen und nicht über ihre Köpfe hinweg.
Das
Verständnis der Welt als Schöpfung Gottes ist heute aufgrund der Entwicklung
der Naturwissenschaften problematisch (aber vielleicht doch nicht ganz
unmöglich) geworden. Wenn in der Bibel von Schöpfung die Rede ist, geht es aber
nicht nur darum, wie die Welt entstanden ist, sondern auch um das eigenartige
Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit und relativer Freiheit (Friedrich
Schleiermacher), dessen wir innewerden, wenn wir uns unsere Stellung in der
Welt klarmachen. Es geht auch darum, in und hinter der Welt, wie sie ist, zu
entdecken oder wenigstens zu erahnen, wie die Welt sein könnte und wie sie sein
sollte - und was wir tun können und sollen, um zu ihrer (und unserer)
Verbesserung beizutragen. Und es geht darum, ob in dieser Welt eine Kraft der
Veränderung und Verbesserung wirkt, die uns ergreifen und verändern und zur
Gestaltung und Verbesserung der Welt in Stand setzen kann - oder ob die Welt
einfach ist, wie sie ist, und wir in und mit ihr machen können, was wir wollen.
Sieger Köder: Schöpfung