21.5.12

Die Welt als Schöpfung sehen


Die Welt als Schöpfung zu verstehen, heißt nicht unbedingt, der Ansicht zu sein, dass alles, was es gibt, so, wie es ist, von Gott bzw. den Göttern gewollt ist und geschaffen wurde. Es gibt z.B. Schöpfungsvorstellungen, nach denen die Welt aus Urstoffen geschaffen wurde, die der Gestaltungsfreiheit des Schöpfers gewisse Grenzen setzten, oder nach denen die Welt durch die Bändigung chaotischer Urmächte geschaffen wurde, die der Schöpfergott besiegt und unschädlich gemacht, aber nicht völlig vernichtet hat.

Hans Holbein der Jüngere: Die Schöpfung

Nach der biblischen Darstellung hat Gott die Welt perfekt erschaffen. Aber die Tiere und die Menschen haben die Freiheit, die Gott ihnen gegeben hat, missbraucht, sind gewalttätig geworden und haben die ursprünglich sehr gute Welt verdorben. Daraufhin wollte Gott zunächst alle Lebewesen in einer riesigen Überschwemmung vernichten, brachte es dann aber doch nicht übers Herz. So erträgt er nun die Welt in ihrer Unvollkommenheit. Doch hat er seine ursprünglichen Absichten nicht einfach aufgegeben. Vielmehr versucht er nun, die Menschen dafür zu gewinnen, sich selbst und die Welt zu verbessern.

In diesem Sinne ist wohl auch zu verstehen, was Jesus nach den Evangelien über das Reich Gottes gelehrt hat. Dessen Nähe setzt eine Dynamik frei, die die Menschen und ihre Beziehungen verwandelt und die Welt verändert. Bei all dem sind die Menschen nicht passive Objekte des Wirkens Gottes, sondern werden befreit dazu, als Subiekte an der Veränderung der Welt und an ihrer eigenen Vervollkommnung mitzuwirken. "Dein Glaube hat dir geholfen", sagt Jesus immer wieder, wenn er einen Menschen geheilt hat. Und er traut seinen Jüngerinnen und Jüngern zu, sogar Berge zu versetzen - im Vertrauen auf Gott, der die Welt erneuert und vervollkommnet, zusammen mit den Menschen und nicht über ihre Köpfe hinweg.

Das Verständnis der Welt als Schöpfung Gottes ist heute aufgrund der Entwicklung der Naturwissenschaften problematisch (aber vielleicht doch nicht ganz unmöglich) geworden. Wenn in der Bibel von Schöpfung die Rede ist, geht es aber nicht nur darum, wie die Welt entstanden ist, sondern auch um das eigenartige Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit und relativer Freiheit (Friedrich Schleiermacher), dessen wir innewerden, wenn wir uns unsere Stellung in der Welt klarmachen. Es geht auch darum, in und hinter der Welt, wie sie ist, zu entdecken oder wenigstens zu erahnen, wie die Welt sein könnte und wie sie sein sollte - und was wir tun können und sollen, um zu ihrer (und unserer) Verbesserung beizutragen. Und es geht darum, ob in dieser Welt eine Kraft der Veränderung und Verbesserung wirkt, die uns ergreifen und verändern und zur Gestaltung und Verbesserung der Welt in Stand setzen kann - oder ob die Welt einfach ist, wie sie ist, und wir in und mit ihr machen können, was wir wollen.
Sieger Köder: Schöpfung