5.4.12
Das Böse durch das Gute besiegen
"Lass dich vom Bösen nicht besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute", schreibt Paulus (Römerbrief, Kap. 12). Was er damit meint, erläutert er folgendermaßen: "Vergeltet niemandem Böses mit Bösem, seid allen Menschen gegenüber auf Gutes bedacht! Wenn möglich, soweit es in eurer Macht steht: Haltet Frieden mit allen Menschen! Übt nicht selber Rache, meine Geliebten, sondern gebt dem Zorn Gottes Raum! Denn es steht geschrieben: Mein ist die Rache, ich werde Vergeltung üben, spricht der Herr. (Vgl. Deuteronomium 32,35.) Vielmehr: Wenn dein Feind Hunger hat, gib ihm zu essen; wenn er Durst hat, gib ihm zu trinken. Denn wenn du dies tust, wirst du feurige Kohlen auf seinen Kopf sammeln. (Vgl. Sprüche Salomos 25,21f.)"
Böses mit Bösem zu vergelten ist ein plausibler Versuch, gegen das Böse vorzugehen - sei es in Form der Rache oder in Form der rechtlich kontrollierten Strafe. Die berühmte Talionsformel "Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn ..." versucht, die Rache oder Strafe vor einer Eskalation zu bewahren. Rache oder Strafe soll verhältnismäßig sein. Wer einem anderen einen Zahn ausschlägt, darf dafür nicht getötet werden. Höchstenfalls darf man ihm dafür einen Zahn ausschlagen.
Aber auch diese Eindämmung der Rache oder Strafe durch das Talionsprinzip (und durch geregelte Rechtsprechung und Strafvollzug) löst nicht das Problem, dass die Gegengewalt, die eingesetzt wird, um die Gewalt einzudämmen (und im Idealfall zu beseitigen), zugleich neue Gewalt produziert. Wenn Böses mit Bösem (oder Schlechtes mit Schlechtem) vergolten wird, entsteht durch die Vergeltung neues Böses (oder Schlechtes). Zugespitzt kann man sagen: Auf diese Weise wird man - im Willen und in der guten Meinung, das Böse zu bekämpfen - sozusagen hintenherum doch durch das Böse besiegt.
Dagegen wendet sich Paulus. Zur nachhaltigen Bekämfung des Bösen ist es besser, zu versuchen, das Böse mit Gutem zu besiegen.
Die beiden Bibelzitate, die Paulus zur Begründung anfügt, fallen allerdings möglicherweise wieder hinter diese Einsicht zurück: Wenn man auf die Rache Gottes hofft, und darauf, dass die gute Behandlung des Feindes dessen Schuldenstand noch erhöht (wenn das Sammeln feuriger Kohlen auf seinem Kopf so zu verstehen ist), dann hofft man letztlich doch wieder auf eine Überwindung des Bösen durch Böses - nur dass man dieses Böse dem lieben Gott überlässt.
Vielleicht haben die beiden Zitate aus dem Alten Testament für Paulus aber auch einen anderen Sinn: Man sollte es Gott überlassen, ob er Böses mit Bösem vergelten will. (Und da nach Paulus jeder Mensch auf die Gnade Gottes angewiesen ist, sollte man vielleicht doch anderen diese Gnade nicht missgönnen.) Und die feurigen Kohlen auf dem Kopf des Feindes können vielleicht auch so verstanden werden, dass der Feind dadurch, dass er freundlich behandelt wird, beschämt wird (er bekommt einen roten Kopf) und sein feindseliges Verhalten aufgibt.
Interessant ist übrigens, dass Paulus seinen Rat, das Böse durch das Gute zu besiegen, nicht als eine spezifisch christliche Haltung versteht, sondern ihn als eine alte Einsicht aus der Hebräischen Bibel übernimmt. Ähnliche Ratschläge finden sich auch außerhalb der Bibel, z. B. in der ägyptischen "Lehre des Amenemope" (geschrieben gegen Ende des 2. Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung). Hier heißt es im 2. Kapitel:
"Steure, lass uns den Bösen übersetzen [gemeint ist: wenn er darum bittet, im Boot über den Nil mitfahren zu dürfen],
wir wollen nicht wie er tun [der das für andere nicht tun würde].
Richte ihn auf, gib ihm deine Hand,
überlasse ihn den Armen [d. h. dem Schutz!] des Gottes.
Fülle seinen Leib mit Brot von dir,
dass er satt werde und weine [weil er einsieht, dass er andere viel schlechter behandelt]."
(Zitiert nach der von Otto Kaiser herausgegebenen Textsammlung: Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, Band III, Seite 229.)
Dass diese Haltung nicht spezifisch christlich ist, sollte für Christen nicht gegen sie sprechen, denn nach christlicher Auffassung ist der Wille Gottes nichts anderes als "das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene" (so Paulus im Römerbrief am Anfang von Kapitel 12). Auch wenn es notorisch schwierig ist, das Gute zu erkennen, und in der Welt manches als gut gilt, was nicht gut ist, kann man vom christlichen Standpunkt aus durchaus zugestehen, dass auch andere Einsicht in den Willen Gottes = das Gute haben - ja, dass man gelegentlich (häufig?) auch von anderen lernen kann, das besser zu verstehen.