Solange Religion Privatsache ist, etwas Persönliches, kommt sie nicht mit der Wissenschaft in Konflikt. Wenn sie aber behauptet, dass Gott oder eine übernatürliche Kraft in die Welt eingreift, dann fordert sie die Wissenschaft heraus, weil die Wissenschaft sagt, dass alles in der Welt nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung geschieht. Wenn jemand behauptet, er habe diese oder jene Entscheidung getroffen, weil Gott ihn geleitet habe - dann riskiert er meinen Widerspruch. Denn ich sage, dass jede Wirkung eine Ursache haben muss und allem eine physikalische Struktur zugrunde liegt. Wenn etwa keine Synapsen in unserem Gehirn feuern würden, dann könnten wir keine moralischen Entscheidungen treffen. Wer wirklich glaubt, dass Gott bei diesen Entscheidungen mitspielt, muss erklären, wie Gott das Feuern der Synapsen beeinflusst.
Darauf entgegnen die Interviewer (Tobias Hürter und Max Rauner):
Die Vorstellung, dass Gott aktiv in den Weltenlauf eingreift, haben die Europäer doch schon im 18. Jahrhundert aufgegeben. Seither gilt eine Arbeitsteilung: Die Religion sagt, was gut und böse ist. Die Wissenschaft untersucht, wie die Welt funktioniert.
Ein solches mehr geistiges (oder "spirituelles") Wirken Gottes - da hat Lisa Randall wohl recht - ist nichts grundsätzlich anderes als ein wunderbares Eingreifen Gottes in den Lauf der Welt mit Blitz, Donner und Erdbeben. Ob Gott es am Himmel blitzen lässt oder in den Synapsen von Gehirnen, das läuft unter physikalischen Gesichtspunkten letztlich auf dasselbe hinaus. Lisa Randall sagt nun: Wer wirklich glaubt, dass Gott bei diesen Entscheidungen (also moralischen Entscheidungen von Menschen) mitspielt, muss erklären, wie Gott das Feuern der Synapsen beeinflusst. Stimmt das? Ich glaube z.B. auch, dass ich die moralischen Überzeugungen und Entscheidungen der Menschen, mit denen ich zusammen lebe, beeinflusse, und dass diese Menschen in gleicher Weise auch mich beeinflussen - und ich glaube nicht, dass man dafür viel über die Synapsen und ihr Feuern wissen muss - weder für das Beeinflussen, noch für das Glauben an das Beeinflussen. Liege ich damit völlig falsch? (Weiss "die Wissenschaft", wie die Synapsen es anstellen, dass ein Mensch Gedanken und Gefühle hat?)
Wenn ich Menschen beeinflusse bzw. beeinflusst werde, funktioniert das nach meinem Eindruck auch nicht im Sinne von Ursache und Wirkung - sonst würde ich nicht von "beeinflussen" sprechen, sondern von "manipulieren". Damit kommt die Frage nach der Freiheit ins Spiel. "Gibt" es so etwas "wirklich", oder ist Freiheit nur eine Illusion (die uns womöglich von unseren Synapsen vorgespiegelt wird - was man ihnen jedoch nicht vorwerfen kann, da sie ja auch gar nicht anders können ...). Ist der Gedanke, dass es so etwas wie Freiheit gibt - und zwar vielleicht nicht nur bei Menschen und Tieren, sondern vielleicht in einem gewissen Grad sogar bei Elementarteilchen - mit dem Gedanken eines lückenlosen Netzes von Ursachen und Wirkungen vereinbar oder nicht? (Wenn man unter Freiheit versteht, nicht zu etwas gezwungen zu werden, was man nicht will, könnte eine solche Vereinbarkeit vielleicht durchaus bestehen.) Und entspricht die Annahme eines lückenlosen Netzes von Ursachen und Wirkungen unseren Erfahrungen mit der Wirklichkeit? (Dass "die Wissenschaft" nach solchen Zusammenhängen sucht und sie oft auch findet, heisst ja noch nicht, dass die ganze Welt von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen bestimmt ist. Vielleicht greift sich die Wissenschaft ja einfach solche Aspekte der Wirklichkeit heraus, die sie kausal untersuchen und beschreiben kann, und blendet andere aus.)
Lisa Randall schwebt ein schiedlich-friedliches Nebeneinander von Religion als "Privatsache" und Wissenschaft als Erklärung der Wirklichkeit vor. Aber welchen Sinn soll die Religion als Privatsache haben, wenn sie mit der Wirklichkeit des Lebens nichts mehr zu tun haben darf? An einer früheren Stelle des Interviews stellt Lisa Randall Wissenschaftler und Priester einander gegenüber: Ich bin mir ... nicht sicher, ob der Priester die Wahrheit auch gesucht hat oder immer nur glaubt, sie schon zu kennen. Wissenschaftler jedenfalls suchen die Wahrheit... Wissenschaftler stellen sich ... gegenseitig ständig infrage. Ich kann als Physikerin nicht einfach irgendetwas behaupten. Ich muss erklären, warum das, was ich sage, stimmt, wie ich darauf gekommen bin und was es bedeutet. Ist das wirklich so anders als das, was Priester oder Theologen (bzw. Priesterinnen und Theologinnen) tun?
Wie mir scheint, ist Lisa Randalls Bild von Religion stark von orthodoxen, fundamentalistischen oder konservativen Varianten des Judentums, des Christentums oder des Islams geprägt, die unter Berufung auf uralte Offenbarungen "ewiger Wahrheiten" Einsichten "der Wissenschaft" widersprechen. Doch widersprechen sich selbst diese religiösen Strömungen auch untereinander. Und wer nur ein wenig Kenntnisse der Religionsgeschichte hat, weiss, dass selbst diese Strömungen ihre Religionen nicht unverändert über die Jahrhunderte hin festhalten können. Religionen verändern sich, weil sich immer wieder zeigt, dass sich Überzeugungen, aber auch Rituale und Lebensformen, an der sich immer wieder verändernden Wirklichkeit bewähren oder nicht und damit zu Anpassungen und Neuerungen herausfordern. Solche Veränderungen sind komplexer und längerfristiger als die Veränderungen wissenschaftlicher Hypothesen und Theorien, aber sie sind nicht grundsätzlich von diesen verschieden. Das gilt um so mehr von der Theologie (oder den Theologien), die die Aufgabe hat, die Religion(en) kritisch zu reflektieren und neu zu rekonstruieren.
Mit diesen Bemerkungen ist das Problem, ob und wie man davon sprechen kann und soll, dass Gott die Welt und die Menschen beeinflusst, weder beseitigt noch gelöst. Es scheint mir aber keineswegs so klar zu sein, wie Lisa Randall meint, dass "die Wissenschaft" heute jeden derartigen Einfluss kategorisch ausschliesst. Hier gibt es noch einiges zu erforschen und zu klären - sowohl für "die Wissenschaft" als auch für "die" Theologie.