20.4.12
Der HERR hat gegeben, der HERR hat genommen ...
Der kranke Hiob wird von seiner Frau gepflegt (Albrecht Dürer)
Nackt bin ich aus dem Leib meiner Mutter gekommen,
nackt werde ich dorthin zurückkehren.
Der HERR hat gegeben, der HERR hat genommen,
der Name des HERRN sei gepriesen.
Mit diesen Worten reagiert Hiob auf das unsägliche Leid, das an einem einzigen Tag über ihn hereingebrochen ist. Seinen riesigen Besitz an Rindern und Eseln, Schafen, Ziegen und Kamelen, fast alle seine Bediensteten und, last but not least, alle seine Kinder hat er auf einen Schlag verloren. Pausenlos erreichten ihn die Hiobsbotschaften von immer neuen, immer schlimmeren Unglücksfällen. Doch Hiob wahrte die Fassung und wird vom Erzähler ausdrücklich dafür gelobt, dass er „bei alldem nicht gesündigt und nichts Törichtes gegen Gott gesagt hat“.
Wenig später erkrankt Hiob auch noch an „bösen Geschwüren von der Sohle bis zum Scheitel“, einem offenbar äußert unangenehmen Ausschlag, den er zu lindern versucht, indem er sich in Asche setzt und sich mit einer Tonscherbe schabt. Doch auch jetzt „sündigt Hiob nicht mit seinen Lippen“, sondern sagt:
Das Gute nehmen wir an von Gott,
und das Böse sollten wir nicht annehmen?
Hiobs erste Äußerung:
Nackt bin ich aus dem Leib meiner Mutter gekommen,
nackt werde ich dorthin zurückkehren,
lässt sich einigermaßen gut nachvollziehen (abgesehen von dem Verständnis des Todes als Rückkehr in den Mutterschoß, das wir hier einmal beiseite lassen wollen): Das Leben ist ein „Nullsummenspiel“. Wenn wir sterben, lassen wir zurück, was wir im Leben erworben haben, aber auch, was uns belastet hat. Wir verlassen das Leben so nackt, wie wir gekommen sind.
Ist das tröstlich, wenn man schon im Leben, vor dem Tod, einen großen Verlust erleiden muss? Es macht ja wohl einen Unterschied, ob man erst am Ende des Lebens wieder so nackt da steht wie an seinem Anfang, oder schon mitten im Leben. Ich kann mir vorstellen, dass es das „Loslassen“ leichter macht, wenn man sich mit Blick auf den Tod schon im Leben angewöhnt, sich an nichts in dieser Welt zu klammern, wenn man sich immer klar macht, dass man das alles einmal wieder aufgeben muss. So, wie es Psalm 62 rät:
Wenn der Reichtum wächst,
hängt euer Herz nicht daran.
Das muss nicht heißen, dass man sich nicht über seinen Wohlstand freut und ihn nicht genießt, sondern nur, dass man ihn nicht so wichtig nimmt, dass man nicht mehr darauf verzichten kann.
Hiobs zweite Äußerung bringt für die Deutung und Bewältigung seiner Leiderfahrung Gott ins Spiel („der HERR“ ist eine gängige christliche Wiedergabe des hebräischen Gottesnamens Jahwe; „der Name des HERRN“ steht hier pars pro toto für Jahwe):
Der HERR hat gegeben, der HERR hat genommen,
der Name des HERRN sei gepriesen.
Hiob fixiert sich nicht auf den Verlust, den er erlitten hat, sondern erinnert sich daran, dass er das, was er jetzt verloren hat, erst im Verlauf seines Lebens bekommen hatte. Sachlich entspricht das der Aussage: „Nackt bin ich aus dem Leib meiner Mutter gekommen.“ Dass Hiob danach äußerst wohlhabend wurde, schreibt er nicht seiner eigenen Leistung zu. Er betrachtet es als etwas, das Gott ihm gegeben hat - und zwar nicht wie ein Geschenk, das, nachdem es ihm geschenkt wurde, Hiob gehört, auf das er einen Anspruch hat, und mit dem er machen kann, was er will, sondern als so etwas wie eine Leihgabe, die Gott jederzeit zurückfordern bzw. wieder zurücknehmen kann. Für diese ungeschuldete Gabe ist Gott zu preisen - auch wenn er sie wieder zurückgenommen hat.
Dass hinter dem, was ihm im Leben widerfährt, ein Gott steht (oder evtl. mehrere Götter), dass es also weder Zufall war, dass Hiob reich geworden ist und auf einen Schlag wieder verarmte, noch die notwendige Konsequenz bekannter oder unbekannter Gesetzmäßigkeiten, diese Annahme gehörte zur Zeit der Abfassung des Hiobbuchs in seinem kulturellen Umfeld zum common sense. Dadurch, dass Hiob seine Erfahrungen zu Gott in Beziehung setzt, ergeben sich Deutungsmöglichkeiten, die bei einer rein säkularen (gottlosen bzw. gottfreien) Beschreibung nicht gegeben sind.
So ist es etwa anzunehmen (wenn auch nicht ganz sicher), dass ein Gott für das, was er tut, Gründe hat, und dass er mit dem, was er tut, bestimmte Absichten verfolgt. Des weiteren kann Hiob aus den guten Erfahrungen, die er in der Vergangenheit mit Gott gemacht hat („der HERR hat gegeben“), die Überzeugung gewinnen, dass Gott es auch jetzt, wo er ihm alles genommen hat, noch immer gut mit ihm meint und gute Absichten mit seinem Handeln verfolgt, auch wenn diese Hiob jetzt noch nicht verständlich sind. Und schließlich kann Hiob sich vielleicht davon, dass er Gott auch jetzt, nachdem er ihm alles genommen hat, noch immer preist, versprechen, Gott zu einer Änderung seines Handelns bewegen zu können.
Hiobs dritte Äußerung:
Das Gute nehmen wir an von Gott,
und das Böse sollten wir nicht annehmen?
spricht nicht wie die zweite davon, dass Gott (gute Dinge) gibt und wieder nimmt, sondern davon, dass er Gutes und Schlechtes bzw. Böses gibt. An letzterem nehmen weder Hiob noch der Erzähler Anstoß: Wenn Gott alles bestimmt, was in der Welt geschieht, und wenn es in der Welt nicht nur Gutes, sondern auch Schlechtes bzw. Böses gibt, dann muss auch dieses Böse bzw. Schlechte von Gott kommen. Weil es von demselben Gott kommt, von dem auch alles Gute kommt, sollen die Menschen es nach Hiobs Ansicht ebenso wie das Gute annehmen und nicht dagegen aufbegehren. Wieder kann dahinter das Vertrauen stehen, dass der Gott, der Gutes gegeben hat, auch mit dem (vielleicht nur scheinbar) Schlechten bzw. Bösen gute Absichten verfolgt.
Die Deutungsmöglichkeiten, die sich für Hiobs Erfahrungen ergeben, wenn Gott ins Spiel gebracht wird, sind aber keineswegs eindeutig. Möglich wäre es ja auch, dass Gott Hiob völlig sinnlos quält, um sich an dessen Leiden zu ergötzen (vgl. Hiob 9). Vielleicht hat Hiob ja seinen Reichtum und seine Kinder nur gegeben, um ihm das alles wieder wegnehmen zu können. Vielleicht ist Hiob Gott auch einfach nur gleichgültig. Im Gespräch zwischen Hiob und seinen Freunden (ab Hiob 3) werden diese und andere Möglichkeiten durchgespielt.
Schon in der Erzählung ist klar, dass Hiobs Deutung seines Unglücks nicht mit dessen tatsächlichen Hintergründen übereinstimmt - jedenfalls nicht ganz bruchlos: Auf den Gedanken, dass Gott ihn auf die Probe stellt, kommt Hiob nicht, auch wenn seine Äußerungen diese Möglichkeit durchaus nicht ausschließen. Aber Hiob darf ja auch gar nicht wissen, dass er auf die Probe gestellt wird, sonst würde diese Probe ja nicht funktionieren.
Heutige Leserinnen und Leser wird an Hiobs Deutung seies Unglücks v.a. stören, dass er nicht nur sein Vieh, sondern auch sein Gesinde und seine Kinder als seinen Besitz betrachtet, den Gott ihm gegeben und genommen hat. Ist es nachvollziehbar, einen Gott zu preisen, der eben gerade eine Unzahl von Menschen und Tiere dem Tod preisgegeben hat? Wäre es nicht angemessener, zu klagen und auch anzuklagen, wie es Hiob dann ab Kapitel 3 tut:
Warum gibt er (Gott) den Leidenden Licht
und Leben denen, die verbittert sind,
die sich sehnen nach dem Tod, doch er kommt nicht,
die nach ihm suchen, mehr als nach Schätzen ...?
Im Verlauf des Gesprächs mit seinen Freunden bringt Hiob neben seinem eigenen, aus seiner Sicht ungerechten Leiden, immer wieder auch das Leiden anderer Menschen zur Sprache, besonders eindrücklich in Kapitel 24:
Den Esel der Waisen treibt man weg,
das Rind der Witwe nimmt man zum Pfand.
Man drängt die Armen vom Weg,
die Elenden des Landes müssen sich alle verstecken.
Sie sind wie Wildesel in der Wüste,
in der Steppe suchen sie nach Nahrung,
nach Brot für sich und ihre Kinder ...
Nackt, ohne Kleidung, verbringen sie die Nacht,
und in der Kälte haben sie keine Decke.
Vom Regen der Berge sind sie durchnässt,
und an den Felsen suchen sie Schutz ...
Von daher hat das „Happy End“ des Hiobbuchs einen schalen Beigeschmack: Hiob geht es wieder gut, er hat wieder Kinder, Knechte und Mägde. Und was ist mit all denen, die zu Anfang des Buches umgekommen sind - um Hiobs Frömmigkeit zu testen? Und mit all den Armen, Schwachen und Unterdrückten, die im Elend leben wie die Tiere? Finden sie bei Hiob Arbeit und Fürsorge? Können sie darauf hoffen, dass Gott „ihr Geschick wendet“, wie er es mit Hiob getan hat? - Zumindest wird ihr ungerechtes Leiden nicht vergessen, solange das Buch Hiob gelesen wird ...
Kinder arbeiten auf der zentralen Müllhalde von Phnom Penh
(http://visp.machfeld.net/ichwirweb/?p=26)