27.2.12

Wenn ich schwach bin, bin ich stark

In 2.Korinther 12 berichtet Paulus, dass er einmal in den dritten Himmel und einmal sogar ins Paradies entrückt worden sei. Er wolle sich aber damit nicht rühmen. Denn niemand soll höher von mir denken, als was er an mir sieht oder was er von mir hört. Die Leute sollen sich ihre Meinung über Paulus aus ihren Erfahrungen mit ihm bilden, nicht daraus, was er ihnen über seine spirituellen Erfahrungen berichtet und was sie nicht überprüfen können. Außerdem, schreibt Paulus, wurde mir ein Dorn für das Fleisch gegeben, ein Engel Satans, dass er mich mit Fäusten schlage, damit ich mich nicht überhebe. Um dessentwillen habe ich dreimal den Herrn angerufen, dass er von mir ablassen möge. Und er hat zu mir gesagt: Meine Gnade genügt dir, denn die Kraft kommt in Schwachheit zur Vollendung. Sehr gerne will ich mich nun vielmehr meiner Schwachheiten rühmen, damit die Kraft Christi bei mir wohne. Deshalb habe ich Wohlgefallen an Schwachheiten, an Mißhandlungen, an Nöten, an Verfolgungen, an Ängsten um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark (2.Korinther 12,7-10 in Anlehnung an die Übersetzung der Elberfelder Bibel).

Die Kraft kommt in Schwachheit zur Vollendung (ἡ γὰρ δύναμις ἐν ἀσθενείᾳ τελεῖται) und Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark (ὅταν γὰρ ἀσθενῶ, τότε δυνατός εἰμι) - diese beiden Aussagen erscheinen auf den ersten Blick unsinnig: Wie kann jemand stark und schwach zugleich sein? Man ist doch entweder stark oder schwach! Und wie soll die Kraft in Schwachheit zur Vollendung kommen? Ist Schwachheit (oder Schwäche) nicht ein Mangel an Kraft?! - Es ist anzunehmen, dass Paulus diese Widersprüchlichkeit seiner Aussagen nicht entgangen ist, und dass er nicht einfach Unsinn geschrieben hat, sondern mit seinen paradoxen Aussagen die Leser seines Briefes zum Nachdenken über Kraft und Schwäche und ihr Verhältnis zueinander herausfordern wollte. Es ging ihm also nicht darum, eine klare und eindeutige Lehre über Kraft und Schwachheit zu formulieren, sondern darum, scheinbar selbstverständliche und unumstößliche Überzeugungen seiner Leser in Frage zu stellen und sie zu neuen Gedanken und einer neuen Sicht der Wirklichkeit anzuregen, die mehr zu erahnen als eindeutig zu beschreiben sind.

Was Paulus sagt, kann einen etwa auf den Gedanken bringen, dass sich die Kraft und Stärke Gottes besonders da zeigt und entfaltet, wo Menschen schwach sind. Starke Menschen brauchen Gottes Unterstützung weniger als schwache. Und bei den Schwachen ist Gottes Hilfe leichter zu erkennen, weil sie dazu führt, dass die Schwachen wider Erwarten etwas erreichen, eine Stärke zeigen oder eine Kraft entfalten, die man ihnen nicht zugetraut hätte, während man bei den Starken mit so etwas rechnet. Allerdings ist es nicht auszuschließen (vielleicht sogar anzunehmen), dass auch die Kraft der Starken von Gott kommt und nicht aus ihnen selbst. Insofern könnte man dann sagen, dass die Starken schwach sind (d. h. gar nicht so stark sind, wie sie erscheinen, weil sie ihre Kraft nicht aus sich selbst beziehen, sondern von Gott) und die Schwachen stark (weil sie darauf hoffen können, dass Gott ihnen die Kraft gibt, die sie selbst nicht haben).

Zu diesem Gedanken passt, dass Paulus schreibt: Sehr gerne will ich mich nun meiner Schwachheiten rühmen, damit die Kraft Christi bei mir wohne. Christus steht auf der Seite Gottes und ist stark, Paulus steht auf der Seite der Menschen und ist schwach. Aber zwei andere Sätze scheinen doch über dieses Verständnis hinaus zu weisen.

Paulus schreibt von sich selbst: Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark. Meint er damit: Wenn ich in mir selbst schwach bin, dann macht mit Christus stark? Oder will er sagen, dass ein bestimmtes Verständnis von Stärke und Schwäche falsch ist, und dass das, was nach diesem falschen Verständnis als schwach erscheint, nach dem richtigen (oder zumindest einem besseren) Verständnis stark ist? Also: Wenn ich (nach herkömmlicher Meinung) schwach bin, dann bin ich (nach tieferer Einsicht) stark?

Auch Gott (bzw. Christus - je nachdem, wen Paulus hier mit der Herr meint) sagt zu Paulus nicht: Meine Kraft kommt in der Schwachheit der Menschen zur Vollendung. Die Lutherübersetzung (meine Kraft ist in den Schwachen mächtig) deutet den Text so. Meine Kraft steht im griechischen Originaltext aber nur in jüngeren und weniger zuverlässigen Handschriften, während andere, zum Teil älteren Handschriften nur die Kraft bezeugen, was ziemlich sicher die ursprünglichere Lesart ist (siehe Nestle-Aland, Novum Testamentum Graece, vgl. die Vulgata: virtus in infirmitate perficitur). Und das griechische Wort ἡ ἀσθενεία bedeutet die Schwachheit und nicht die Schwachen. Wenn Gott bzw. Christus aber sagt: Die Kraft vollendet sich in der Schwachheit, dann deutet eigentlich nichts darauf hin, dass er von seiner Kraft und der Schwachheit der Menschen spricht. Es klingt vielmehr wie eine grundsätzliche und allgemeine Aussage über Kraft und Schwachheit, Stärke und Schwäche als solche.

Was soll man sich aber darunter vorstellen, dass Kraft in Schwachheit zur Vollendung kommt? Wenn jemand Krafttraining betreibt, will er (oder sie) doch immer stärker werden, nicht schwächer?! Aber nicht immer ist die Steigerung der Kraft so einfach und klar messbar wie beim Krafttraining. Ein Kind will "groß und stark werden". Wenn es heranwächst, wird es tatsächlich größer und stärker. Dabei wird es aber auch immer wieder die Erfahrung machen, dass sich im Verlauf seiner Entwicklung auch sein Verständnis von "Größe und Stärke" verändert. Ist stark, wer jeden, der ihm zu nahe kommt, umhaut? Oder gehört es zum Starksein, sich selbst zu beherrschen und nicht immer gleich handgreiflich werden zu müssen? Ist stärker, wer eine Ohrfeige mit einem Gegenschlag quittiert, oder wer dem Angreifer auch noch die andere Backe hinhält?

Die Passionsgeschichten der Evangelien erzählen eindrücklich von einem Menschen, der von anderen fertig gemacht wird, verraten, verlassen, beleidigt, bespuckt, verspottet, ausgepeitscht und gekreuzigt. Jesus wird nicht dargestellt als ein Mensch, der heroisch in den Tod geht. Trotzdem ahnt man, dass er stärker ist als all die anderen, die an ihm ihren Hass, ihre Wut oder ihren Hochmut auslassen. Denn er geht seinen Weg zu Ende, bis in die letzte Konsequenz.

Die Kraft vollendet sich in der Schwachheit. - Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.

Nicht etwa, weil der schwache Jesus dann von Gott auferweckt wird und so am Ende doch noch über seine Gegner triumphiert. Das würde ja bedeuten, dass am Ende doch die größere Kraft zählt, dass nicht die Kraft in der Schwäche zur Vollendung und ans Ziel kommt, sondern dass die Schwäche nur ein Durchgangsstadium ist, aus dem dann eine noch größere Kraft erwächst. Nein - auch der auferstandene Jesus trägt in den Erzählungen der Evangelien die Zeichen der Schwäche an sich, die Wundmale von seiner Kreuzigung. Und er unternimmt nichts, um sich an denen, die ihn entwürdigt und getötet haben, zu rächen, oder öffentlich zu demonstrieren, dass Gott ihm geholfen hat. Er hat nicht einmal einen klaren Beweis für seine Auferstehung hinterlassen - vielleicht haben seine Jünger sich das alles ja nur eingebildet?

Sollen wir darauf hoffen, dass Jesus eines Tages mit Pauken und Trompeten wiederkommen wird, um zu demonstrieren, dass er am Ende eben doch der Stärkere ist? Oder sollen wir von ihm lernen, dass die Kraft in der Schwachheit zur Vollendung kommt, und dass ich stark bin, wenn ich schwach bin?