20.2.12

Hilf dir selbst, weil Gott dir hilft!

Schaffet, dass ihr selig werdet,
mit Furcht und Zittern!

Denn Gott ist's, der in euch wirkt beides, 
das Wollen und das Vollbringen, 
nach seinem Wohlgefallen.

So hat Paulus an die christliche Gemeinde in Philippi geschrieben (Philipper 2,12f. in der Übersetzung der Lutherbibel von 1984). Die Sätze erscheinen paradox, denn sie fordern die Philipper dazu auf, etwas zu tun, von dem sie zugleich feststellen, dass Gott es bewirkt.

Im griechischen Originaltext ist die Paradoxie noch deutlicher:

μετὰ φόβου καὶ τρόμου 
τὴν ἑαυτῶν σωτηρίαν κατεργάζεσθε· 
θεὸς γάρ ἐστιν ὁ ἐνεργῶν ἐν ὑμῖν 
καὶ τὸ θέλειν καὶ τὸ ἐνεργεῖν 
ὑπὲρ τῆς εὐδοκίας. 

Vgl. die Wort-für-Wort-Übersetzung im Münchener Neuen Testament:

Mit Furcht und Zittern 
bewirkt eure eigene Rettung!
Denn Gott ist der Wirkende in euch 
sowohl das Wollen wie auch das Wirken 
für das Wohlgefallen.

(Die letzte Zeile ist schwer verständlich. Plausibel erscheinen die Vorschläge der Einheitsübersetzung: noch über euren guten Willen hinaus, und der Zürcher Bibel: zu seinem eigenen Wohlgefallen.)

Paulus sagt also, etwas salopp gesagt, nicht: Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott, sondern: Hilf dir selbst, weil Gott dir hilft – und weil er dir genau auf die Weise hilft, dass er bewirkt, dass du dir selbst hilfst – und weil es für deine Rettung wesentlich ist, dass du weißt, dass es so ist.

Es ist also nicht so, dass Gott und Mensch hier sozusagen Hand in Hand zusammenwirken (Wenn du willst, dann rettet dich Gott, oder: Wenn Gott bewirkt, dass du es willst und du dich darauf einlässt [indem du dem von Gott bewirkten Wollen zustimmst oder/und anfängst, etwas für deine Rettung zu tun], dann rettet dich Gott). Sondern Gott bewirkt in den Menschen, dass sie etwas tun (vom Wollen bis zum Wirken).

Ergibt sich demnach aus Philipper 2,12f., dass die Menschen – zumindest in Bezug auf ihre Rettung – unfrei sind? Das kommt darauf an, was man unter frei und unfrei versteht. Versteht man unter Freiheit, dass man tun kann, was man will, stellt der Text die menschliche Freiheit eigentlich nicht in Frage: Gott bewirkt ja nicht, dass die Menschen etwas tun, was sie nicht tun wollen, sondern es wird ausdrücklich gesagt, dass er das Wollen wie auch das Wirken bewirkt. Die Menschen wollen also das tun, was Gott sie tun lässt, nämlich ihre eigene Rettung bewirken.

Dasselbe gilt, wenn man Freiheit nicht in dem Sinn versteht, dass man tun kann, was man will (dann wäre ein Mensch, der auf den Mond springen will, nicht frei, weil er das nicht tun kann, was ein wenig seltsam klingt), sondern in dem Sinne, dass man nicht gezwungen wird etwas gegen seinen Willen zu tun oder zu unterlassen. Auch bei diesem Verständnis von Freiheit wird die Freiheit des Menschen nicht ausgeschaltet, wenn Gott bewirkt, dass sie etwas wollen und tun – sie tun ja dann genau das, was sie wollen.

Allerdings haben wir trotzdem ein schlechtes Gefühl, wenn davon die Rede ist, dass jemand bewirkt, dass wir etwas wollen. Werden wir dadurch nicht manipuliert? Sollten wir nicht auch frei sein, zu wollen, was wir wollen? Um diese Frage zu beantworten, müsste man genauer darüber nachdenken, was es heißt, zu wollen, dass man etwas will, oder etwas zu wollen, was man nicht wollen will. Man käme dann wohl zu Fällen, in denen ein Mensch mit sich selbst uneins ist, weil er Wünsche hat, die einander widersprechen – etwa wenn ein Trinker Alkohol trinken will, zugleich aber auch von seiner Sucht loskommen will, oder wenn ein Übergewichtiger sich wünscht, gerne Salat essen zu wollen statt Schweinebraten mit Knödel (oder gerne Sport treiben zu wollen). In solchen Fällen macht es durchaus Sinn, davon zu sprechen, dass Menschen etwas wollen wollen, und dass sie frei oder unfrei sein können, das zu wollen, was sie wollen.

Nun geht es aber in Philipper 2,12f. nicht einfach darum, dass Gott in Menschen irgendein Wollen und Wirken bewirkt, sondern darum, dass Gott bewirkt, dass sie ihre Rettung wollen und bewirken. Was Paulus damit meint, wird an anderen Stellen seiner Briefe deutlicher: Bei dieser Rettung geht es jedenfalls um eine Befreiung (vgl. Galater 5,1: Zur Freiheit hat uns Christus befreit). Römer 7 beschreibt diese Befreiung als Befreiung von dem Zwang, zu tun, was man nicht will, nämlich das Böse statt des Guten (Vers 19: Das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich). Wenn Philipper 2,12f. mit dem Ausdruck Rettung die Befreiung aus einer solchen Situation im Auge hat, kann man kaum sagen, dass der Mensch durch diese von Gott bewirkte Rettung manipuliert wird – im Gegenteil: er wird dadurch überhaupt erst in den Stand der Freiheit gesetzt. 

Was ist nun aber, wenn der betroffene Mensch gar nicht gerettet werden wollte, wenn er gar nicht frei sein wollte? Aber gibt es hier wirklich ein Problem? Solange ein Mensch nicht gerettet werden will, wird er ja nach Philipper 2,12f. auch nicht gerettet – nicht, weil er das nicht will, sondern weil Gott, wenn er einen Menschen rettet, auch bewirkt, dass er das will. Und ein Mensch, der nicht frei sein will, sollte sich nicht darüber beschweren, dass etwas mit ihm geschieht, was er nicht will.

Wenn die Rettung durch Gott nach Philipper 2,12f. darin besteht, dass Gott bewirkt, dass der Mensch gerettet werden will und dass er seine Rettung selbst bewirkt, dass er frei werden will und sich befreit, kann man diese Rettung kaum als Manipulation bezeichnen – aber es handelt sich dabei auch nicht um ein freies Handeln des Menschen, weil er durch diese Rettung überhaupt erst frei wird bzw. sich selbst befreit.