Im Magazin Philosophy Now (July/August 2012) plädieren die Philosophieprofessoren Julian Savulescu (Oxford) und Ingmar Persson (Gothenburg) dafür, die Möglichkeiten einer moralischen Verbesserung der Menschen durch biomedizinische Mittel zu erforschen. (Vgl. ihr Buch Unfit for the Future: The Urgent Need for Moral Enhancement, Oxford University Press, 2012.) Begründung: Die Moralität der meisten Menschen sei den Problemen unserer Zeit - Savulescu und Persson nennen vor allem die durch Menschen bewirkte Klimaveränderung und die drohende Auslöschung allen Lebens auf der Erde durch Massenvernichtungswaffen - nicht gewachsen. Die meisten Menschen fühlen sich nur für ihre räumlich und zeitlich engere Umgebung moralisch verantwortlich. Nur wenige spüren eine persönliche Verantwortung für die globale Lage aller Lebewesen auf der Erde in ferner Zukunft - obwohl ihr Handeln de facto darauf Einfluss hat. Die traditionellen Mittel, diese Situation zu verbessern, moralische Erziehung und soziale Reformen, haben sich nach Meinung der Autoren als nur begrenzt tauglich erwiesen. In Anbetracht der Nähe und der Größe der Gefahr sollte man deshalb von allfälligen Möglichkeiten, die Menschen z.B. durch genetische Eingriffe oder pharmazeutische Behandlung moralisch zu verbessern, Gebrauch machen - mindestens aber über den Einsatz solcher Mittel nachdenken und ihn nicht von vornherein ablehnen.
Eine Frage, die in diesem Zusammenhang sicher diskutiert werden müsste, ist, ob man Menschen nur mit ihrer Einwilligung auf biomedizinischem Weg moralisch verbessern darf oder auch ohne eine solche - etwa durch eine entsprechende Behandlung von Embryonen oder aber auch durch pharmazeutische Zusätze zum Trinkwasser oder zur Atemluft. Zu fragen wäre auch, wie sich eine auf biomedizinischem Weg erzeugte moralische Gesinnung von einer durch Bildung und Reifung vermittelten unterscheidet, und ob ein solcher Unterschied allenfalls moralisch relevant ist. Nach landläufigem Verständnis gehört es ja z.B. zum moralischen Handeln, dass man nicht einfach seinen Instinkten oder Gefühlen folgt, sondern etwas aus moralischen Gründen tut oder unterlässt, obwohl es den momentanen Wünschen widerspricht - also z.B. ins Wasser springt um ein Kind vor dem Ertrinken zu retten, obwohl man eigentlich etwas anderes vorhat und sich dabei wahrscheinlich eine schwere Erkältung zuziehen und seine Kleidung ruinieren wird. Moralisches Handeln ist Handeln aus Pflicht, nicht unbedingt auch aus Neigung (möglicherweise auch aus der Neigung, seine Pflicht zu tun). Dass man auf biomedizinischem Weg Gefühle, Wünsche und das Verhalten von Menschen manipulieren kann, scheint mir eher vorstellbar, als dass man auf diesem Weg so etwas wie Pflichtbewusstsein erzeugen kann - aber natürlich kann man das auch nicht von vornherein ausschließen. Jedenfalls wäre es wünschenswert, dass ein „moral enhancement“ nicht nur bewirkt, dass die Menschen Gutes tun, sondern auch, dass sie das aus der Einsicht heraus tun, dass man Gutes tun soll und dass das, was sie tun, gut ist.
Interessanterweise gibt es den Gedanken eines „moral enhancement“ schon in der Bibel. So gibt es im Alten Testament die Hoffnung, dass Gott das „Herz“ der Menschen verändern wird, um sie moralisch zu verbessern. Dabei muss man wissen, dass das „Herz“ nach biblisch-hebräischem Verständnis nicht nur der Sitz der Emotionen ist (wie in unserer Kultur, in der das Herz als Sitz der Gefühle dem Kopf als Ort der vernünftigen Überlegungen gegenübersteht), sondern auch Sitz der Vernunft und des Verstandes.
In Deuteronomium 30,6 findet sich beispielsweise die Erwartung, dass Gott die Herzen der Israeliten „beschneiden“ wird. Dann werden sie Gott lieben und ihr bislang schlechtes Verhalten ändern („umkehren“ bzw. „sich bekehren“) und Gottes Gebote halten können.
Jeremia 31,31ff verspricht den Israeliten einen „neuen Bund“ mit Gott, der darin besteht, dass Gott sein Gesetz „in ihr Inneres legen“ und es „in ihr Herz schreiben“ wird.
Ezechiel 36,26f geht noch weiter und lässt Gott zu den Israeliten sagen: „Ich werde euch ein neues Herz geben und einen neuen Geist in euer Inneres legen. Ich werde das steinerne Herz aus eurem Leibe herausnehmen und euch ein fleischernes Herz geben. Meinen Geist werde ich in euer Inneres legen und machen, dass ihr in meinen Satzungen wandelt und meine Gesetze getreulich erfüllt.“
An all diesen Stellen (und es gibt noch mehr vergleichbare) geht es auf der einen Seite um eine Manipulation an Menschen zum Zweck ihrer moralischen Verbesserung. Auf der anderen Seite soll aber durch diese Manipulation das Herz der Menschen nicht ausgeschaltet, sondern verändert werden: Sie sollen nicht wie Marionetten oder programmierte Roboter die Gesetze Gottes erfüllen (von denen vorausgesetzt wird, dass sie moralisch gut sind), sondern aus der Einsicht ihres Herzens heraus (die Vernunft, Verstand und Gefühl einschließt).
Damit das manipulative Erzeugen solcher Einsichten moralisch gerechtfertigt werden kann, muss man wohl fordern, dass die dadurch bewirkte neue Einsicht die Erkenntnis einschließt, dass ich früher verblendet war und jetzt, durch die von Gott bewirkte Veränderung, diese Verblendung einsehe und froh bin, davon befreit zu sein. - Allerdings kann man fragen, ob die Erfahrung einer solchen Veränderung der Tiefen der eigenen Person nicht eine grundsätzliche Skepsis gegenüber der moralischen Qualität und der Vernünftigkeit der eigenen Entscheidungen erzeugen wird - es ist ja keineswegs auszuschließen, dass ich morgen wiederum mit einem neuen „Herzen“ erwache und mein heutiges Denken als verblendet erkenne (wie es immer wieder im Verlauf „normaler“ moralischer Bildungs- und Reifungsprozesse geschieht). Aber vielleicht ist eine solche Skepsis ja gerade gut und wünschenswert.