Psalm 6
GOTT, strafe mich nicht in deinem Zorn und züchtige mich nicht in deinem Grimm. Sei mir gnädig, GOTT, denn ich verschmachte, heile mich, GOTT, denn meine Gebeine sind erschrocken. Tief erschrocken ist meine Seele. Du aber, GOTT, wie lange? Kehre wieder, GOTT, errette mein Leben, hilf mir um deiner Gnade willen. Denn im Tod gedenkt man deiner nicht, wer wird im Totenreich dich preisen? Ich bin erschöpft von meinem Seufzen, ich tränke jede Nacht mein Bett, mit meinen Tränen überschwemme ich mein Lager. Schwach geworden ist mein Auge vor Gram, matt geworden von allen, die mich bedrängen. Weicht von mir, ihr Übeltäter alle, denn GOTT hat mein lautes Weinen gehört. GOTT hat mein Flehen gehört, GOTT nimmt mein Gebet an. Es werden zuschanden, es erschrecken alle meine Feinde, sie werden zurückweichen, werden zuschanden im Nu.
Der Sprecher dieses Psalms klagt über eine ganze Reihe von Leiden: Er ist anscheinend krank, und zwar körperlich und seelisch: „Ich verschmachte ... meine Gebeine sind erschrocken ... tief erschrocken ist meine Seele.“ Deshalb bittet er Gott: „Heile mich! ... Kehre wieder! ... Errette mein Leben! ... Hilf mir um deiner Gnade willen!“ Er sieht sich schon an der Schwelle des Todes. Deshalb ist es seiner Meinung nach so dringlich, dass Gott ihm hilft und ihn vor dem Tod rettet. Denn wenn er tot ist, kann er Gott nicht mehr loben und preisen. Als Toter kann er nicht einmal mehr an Gott denken. Hätte Gott nicht mehr davon, wenn er den Bittsteller rettet und dafür gelobt wird? (Ein Gedanke, der für uns vielleicht etwas befremdlich ist.) Aber auch jetzt schon, in seiner Krankheit, kann der Sprecher Gott nicht preisen. Dafür ist er viel zu schwach: „Ich bin erschöpft von meinem Seufzen. Ich tränke jede Nacht mein Bett, mit meinen Tränen überschwemme ich mein Lager. Mein Auge ist schwach geworden vor Kummer.“
Neben der Krankheit leidet der Sprecher des Psalms offenbar auch unter Menschen, die ihm feindselig gesonnen sind und ihn bedrängen. Am Ende des Psalms hat man fast den Eindruck, dass der Sprecher seine Krankheit ganz vergessen hat, denn er spricht nur noch von seinen Feinden, die er als Übeltäter tituliert: „Ich bin matt geworden von allen, die mich bedrängen. Weicht von mir, ihr Übeltäter alle, denn GOTT hat mein lautes Weinen gehört. GOTT hat mein Flehen gehört, GOTT nimmt mein Gebet an. Es werden zuschanden, es erschrecken alle meine Feinde, sie werden zurückweichen, werden zuschanden im Nu.“
Krankheit und Feinde sind Probleme, die auch sonst in den Klagepsalmen oft angesprochen werden. Beides hat die Menschen damals anscheinend weit mehr bedrängt als es bei uns heute der Fall ist. Wir können heute Schmerzen mit Medikamenten lindern und viele Krankheiten problemlos heilen denen die Menschen damals hilflos ausgeliefert waren. Eine Grippe, eine Lebensmittelvergiftung, eine Blinddarmentzündung, eine verschmutzte Wunde, ein Arm- oder Beinbruch, so etwas konnte einen Menschen damals umbringen oder zum Invaliden machen.
In den Dörfern, und kleinen Städten, in denen fast alle Menschen von Ackerbau und Viehzucht lebten, konnte es schnell zu Streitigkeiten zwischen Nachbarn kommen: Dein Vieh hat von meiner Weide gefressen. Deine Kuh, auf die Du nicht aufgepasst hat, hat meinen Garten zertrampelt oder sogar mein Kind getötet. Du machst meiner Frau schöne Augen. Dein Sohn hat meine Tochter verführt. Du hast bei unseren Nachbarn Lügen über mich verbreitet. Konflikte zwischen Nachbarn konnten leicht eskalieren. Es gab keine Polizei, die man zur Hilfe rufen konnte.
Vielleicht nennt unser Psalm Krankheit und Feinde nebeneinander, damit sich möglichst viele Leser oder Hörer in diesem Gebet wiederfinden konnten. Vielleicht ist der Gedanke aber auch, dass Krankheit - körperlich oder seelisch - oft Aggressionen bei den Mitmenschen eines Kranken auslöst. Sie müssen die Arbeiten übernehmen, die der oder die Kranke sonst erledigen würde. Sie müssen ihn oder sie pflegen und versorgen. Und sie müssen sich die ständigen Klagen und das dauernde Gejammer anhören. Da kann es schon passieren, dass das anfängliche Mitleid mit der Zeit in Ärger oder sogar in offene Feindseligkeit umschlägt.
Neben Krankheit und Feinden scheint den Sprecher unseres Psalms aber noch etwas weiteres zu bedrücken: Er betrachtet sein ganzes Unglück als eine Strafe und Zurechtweisung durch Gott. Deshalb bittet er Gott: „Strafe mich nicht in deinem Zorn und züchtige mich nicht in deinem Grimm. Sei mir gnädig ...“ Dabei bezeichnen die Ausdrücke für „strafen“ und „züchtigen“ im Hebräischen weniger eine Strafe im juristischen Sinne, sondern eher Erziehungsmassnahmen, zu denen damals selbstverständlich auch noch das „züchtigen“ gehörte.
In vielen Psalmen beklagt sich der Sprecher darüber, dass ihm Unrecht widerfahren ist, obwohl er unschuldig ist und keine gravierenden Fehler gemacht hat in seinem Leben. Das setzt voraus, dass Unglück normalerweise die Strafe dafür ist, dass jemand etwas unrechtes getan hat. Wer nichts unrechtes getan hat, den oder die sollte eigentlich auch kein Unglück treffen.
Der Sprecher unseres Psalms protestiert nicht dagegen, dass Gott ihn mit Unglück bestraft und züchtigt. Er bittet Gott nur, ihn nicht in seinem Zorn zu strafen und in seinem Grimm zu züchtigen, ihn also nicht hart zu bestrafen, sondern gnädig und gütig. Entweder hat der Sprecher schon vorher gewusst, dass er etwas falsch gemacht hat, oder sein Unglück hat es ihm bewusst gemacht. Er steht zu seiner Schuld und akzeptiert, dass er dafür bestraft wird. Er bittet nur um eine gnädige Strafe, die ihn nicht umbringt, sondern ihn wieder ins Leben zurück führt.
Wenn ich auf mein Leben zurück schaue, kommen mir durchaus Zeiten und Situationen in den Sinn, in denen ich micht ähnlich gefühlt habe wie der Sprecher dieses Psalms, in denen es mir verdientermassen schlecht ging, in denen Unglück und Leid für mich ein Anstoss waren, darüber nachzudenken, was ich in meinem Leben falsch gemacht habe und wie ich es besser machen könnte, und in denen mir klar war, dass ich das aus eigener Kraft nicht schaffen würde, sondern nur mit Gottes gnädiger Hilfe. Vielleicht geht es Ihnen ähnlich.
Der Gedanke, dass Unglück und Leid eine Strafe Gottes sein können, durch die wir herausgefordert werden, uns kritisch zu prüfen, Fehler zu erkennen und zu versuchen, uns zu bessern, der Gedanke, dass Gott uns durch Unglück und Leid erziehen, belehren und den Weg in ein neues Leben zeigen will, dieser Gedanke hat durchaus etwas für sich. Er kann uns helfen, im Unglück nicht zu verzweifeln und zu versinken, sondern daraus zu lernen und gestärkt und verwandelt daraus hervorzugehen.
Der Gedanke, dass Unglück und Leid eine Strafe Gottes sind, kann uns aber auch den Blick für die Wirklichkeit verstellen und uns in unserer Lieblosigkeit und Rücksichtslosigkeit bestärken, vor allem dann, wenn wir diesen Gedanken nicht zur Selbstkritik einsetzen, sondern zur Kritik anderer Menschen. Da bekommt der Nachbar mit 50 einen Herzinfarkt: Selber schuld! Warum hat er auch immer so viel gearbeitet, so fett gegessen und keinen Sport getrieben? Das musste ja so kommen. Und jetzt soll ich - via Krankenkasse - auch noch mit-bezahlen für seine Behandlung? Ist das nicht ungerecht? Müsste man Leuten, die so ungesund leben, nicht höhere Prämien abverlangen? Besonders im Gesundheitsbereich wird heute oft so getan, als könne man, wenn man nur alles richtig macht, sein Leben lang von Krankheiten verschont bleiben. (Und dann sind mit sechzig die Gelenke kaputt vom vielen Joggen: Selber schuld!) Aber auch in anderen Bereichen machen wir es uns oft einfach, indem wir so tun, als seien die Menschen für ihr Unglück selbst verantwortlich, ob arbeitslos oder invalid, ob Flüchtling oder Strafgefangener: Selber schuld! Kürzlich habe ich in einem Magazin gelesen: Wer wirklich will und sich ein bisschen Anstrengt, der kann mit 40 Millionär sein. Sie sind kein Millionär? Selber schuld!
Das kann natürlich nicht stimmen. Und das merken wir nicht erst heute. Das haben die Menschen in der Bibel auch schon gewusst. Denken wir nur an Hiob, den Superreichen und Superfrommen, dem Gott sein Hab und Gut, seine Familie und seine Gesundheit wegnimmt, der im Staub und in der Asche draussen vor der Stadt sitzt und dem seine Freunde vorwerfen, dass er sagt: Ich habe doch nichts verbrochen! Ich habe das nicht verdient! Genauso wenig wie all die armen und elenden Menschen, die am Rand der Gesellschaft leben (oder heute in den „unentwickelten“ Ländern), die den Reichen die Toiletten putzen, den Kaffee pflücken und die Hemden nähen und dabei selbst kaum über die Runden kommen, deren Kinder an einer simplen Infektion sterben, weil es keine erschwinglichen Medikamente gibt. Die haben das auch nicht verdient. Mag sein, dass die Reichen nicht schuld sind am Elend der Armen. Aber sie werden schuldig, wenn sie es mit einem Achselzucken quittieren und nichts dagegen tun. So redet Hiob - und am Ende gibt Gott ihm Recht und die frommen Freunde müssen einsehen, dass sie Unrecht hatten.
Die Gleichung: „Unglück = Strafe für Unrecht“, die geht nicht auf. Diese Einsicht wird unausweichlich, wenn wir uns an Jesus von Nazaret erinnern, nach dem wir uns Christen nennen. Er wurde angefeindet und verspottet, am Ende haben sie ihn gefoltert und umgebracht. Aber das war nicht so, weil er Unrecht getan hatte und dafür bestraft wurde. Jesus hat gelitten und ist gestorben, weil er recht hatte. Viele Menschen konnten das damals nicht begreifen, und viele können es heute noch nicht. „Steig herunter vom Kreuz!“ haben sie ihm zugerufen. „Dann sehen wir, dass du nicht von Gott bestraft wirst.“ Aber Jesus ist nicht vom Kreuz herunter gestiegen.
Mit Jesus am Kreuz ist ein Bild Gottes gestorben, das schon im Alten Testament, bei Hiob und auch in anderen Schriften, als hoch problematisch erkannt worden war: das Bild Gottes als himmlischer Richter oder Erzieher, der die Menschen mit Unglück und Leid bestraft und züchtigt, wenn sie etwas falsch gemacht haben. Jesus hat den Menschen andere Bilder von Gott vor Augen gestellt: Gott lässt es regnen und die Sonne scheinen über Gerechte und Ungerechte, über gute und schlechte Menschen. Gott geht den Menschen nach, wenn sie auf Abwege geraten, so wie ein Hirt seinen Schafen, und bringt sie zurück auf den richtigen Weg. Gott freut sich, wenn ein Mensch, der für die gute Sache verloren schien, sich besinnt und auf den rechten Weg zurückkehrt. Gott zahlt jedem den Mindestlohn, den er zum überleben braucht, ob er nun einen Tag, ein paar Stunden oder nur eine Stunde gearbeitet hat. Gott bringt die Menschen zur Besinnung und Umkehr, indem er ihnen ihre Schuld vergibt, nicht indem er sie dafür bestraft.
Der Gott, von dem Jesus gesprochen hat, ist kein Gott der Willkür, wie es manche Götter des alten Orients und der Antike waren, die manchmal einfach aus Willkür oder schlechter Laune heraus einen Menschen, ein Volk oder die ganze Menschheit ins Unglück stürzten. Gott ist aber auch nicht - wie in grossen Teilen des Alten Testaments - ein Gott der Moral und der Gerechtigkeit, der die Guten mit Wohlstand und Glück belohnt und die Bösen mit Unglück und Krankheit bestraft, und der dafür sorgt, dass es jedem genau so ergeht, wie er es verdient hat - sei es hier auf Erden oder dann im Jenseits. Der Gott, von dem Jesus gesprochen hat, ist kein Gott der Willkür und kein Gott der Moral, sondern ein Gott der Liebe und der Freiheit, ja, man kann sagen: Gott ist der Geist der Liebe und der Freiheit, der die Welt und die Menschen durchdringt und erfüllt.
Er hilft den Menschen, zu erkennen, was gut ist und was böse, und jeweils das zu tun, was richtig und nötig ist - so wie der „barmherzige Samariter“, der sieht: Da liegt ein Mensch verletzt am Weg, und der ihm hilft, ohne lange zu überlegen. Die Liebe, der wir unser Leben verdanken und die uns am Leben erhält, befreit uns von der Angst, dass Gott uns für unsere Sünden und Fehler bestraft. Die Liebe, in der wir uns mit allen Menschen und mit der ganzen Schöpfung verbunden wissen, befreit uns von der Fixierung auf unser eigenes Glück oder Unglück. Sie befreit uns auch dazu, unsere Fehler und unsere Schuld zu erkennen, dazu zu stehen und es künftig besser zu machen - und zwar nicht nur dann, wenn es uns schlecht geht, sondern auch und gerade dann, wenn es uns gut geht.
Können wir als Christen, für die Gott der Geist der Liebe und der Freiheit ist, den alttestamentlichen Psalm nachsprechen und Gott bitten: „Strafe mich nicht in deinem Zorn und züchtige mich nicht in deinem Grimm“? Ich weiss keine einfache Antwort auf diese Frage. Auf der einen Seite fällt es mir nach allem, was uns Jesus gezeigt hat, nicht so leicht, mir Gott als jemanden vorzustellen, der Menschen in seinem Zorn straft und züchtigt, indem er ihnen Krankheiten und Feinde schickt. Auf der anderen Seite müssen Liebe und Zorn vielleicht auch nicht unbedingt einander widersprechen. Wenn ich einen Menschen liebe, kann es mich gerade deshalb zornig und wütend machen, wenn ich sehe, wie dieser Mensch in sein Unglück rennt. Und wir erziehen unsere Kinder, weil wir sie lieben - auch wenn wir heutzutage auf Schläge und Strafen weitgehend verzichten. So kann ich mich auch als Christ in die Psalmen des Alten Testaments hineindenken und mich zum Teil in ihnen wiedererkennen. Ich möchte mich aber nicht gerne dazu drängen lassen, mir alles, was in den Psalmen steht, auch als Gebet zu eigen zu machen.
Ich habe einmal versucht, mich von dem biblischen Psalm zu eigenen Gedanken inspirieren zu lassen. Ich lese zuerst den Psalm und dann meine Gedanken dazu - vielleicht regt Sie das an, den Psalm zu Hause noch einmal zu lesen und Ihre eigene Version aufzuschreiben.
Psalm 6
GOTT, strafe mich nicht in deinem Zorn und züchtige mich nicht in deinem Grimm. Sei mir gnädig, GOTT, denn ich verschmachte, heile mich, GOTT, denn meine Gebeine sind erschrocken. Tief erschrocken ist meine Seele. Du aber, HERR, wie lange? Kehre wieder, GOTT, errette mein Leben, hilf mir um deiner Gnade willen. Denn im Tod gedenkt man deiner nicht, wer wird im Totenreich dich preisen? Ich bin erschöpft von meinem Seufzen, ich tränke jede Nacht mein Bett, mit meinen Tränen überschwemme ich mein Lager. Schwach geworden ist mein Auge vor Gram, matt geworden von allen, die mich bedrängen. Weicht von mir, ihr Übeltäter alle, denn GOTT hat mein lautes Weinen gehört. GOTT hat mein Flehen gehört, GOTT nimmt mein Gebet an. Es werden zuschanden, es erschrecken alle meine Feinde, sie werden zurückweichen, werden zuschanden im Nu.
Ich möchte in meinem Leben nie aufhören, dazu zu lernen. Ich möchte immer wieder erkennen, was ich falsch mache und was ich besser machen kann, auch wenn das weh tut. Und ich möchte das dann auch in meinem Leben umsetzen können. Ich kann das nicht alleine. Ich bin angewiesen auf Kritik und auf Unterstützung.
Ich möchte lernen, in Krankheit und Leid die Hoffnung nicht aufzugeben, dass es mir wieder besser gehen kann. Ich möchte auch erkennen, wo mich Krankheit, Unglück und Leid darauf hinweisen, dass in meinem Leben etwas nicht in Ordnung ist. Ich möchte lernen, Krankheit und Unglück zu ertragen, wo es nicht zu vermeiden ist, dabei aber dem Leben zugewandt bleiben und offen dafür, Liebe zu empfangen und Liebe zu geben, solange ich noch nicht tot bin.
Ich wünsche mir, mit meinen Mitmenschen in Frieden zu leben und mich mit meinen Feinden zu versöhnen. Ich wünsche mir, dass der Ungeist des Neids, der Konkurrenz und der Feinschaft überwunden wird durch den Geist der Liebe und der Freiheit.