Jeremy Adler hat in der "Welt" vom 20. Juni 2020 eine präzise und konzise Kritik der Theorie des "kulturellen Gedächtnisses" vorgelegt, die in den letzten Jahrzehnten von Jan und Aleida Assmann vertreten wurde und die kulturwissenschaftliche sowie mehr noch die feuilletonistische Diskussion stark beeinflusst hat - nicht unbedingt zu deren Vorteil.
In jüngster Zeit feiert das Studium des Gedächtnisses Konjunktur. Wie schon oft bemerkt wurde, ist es geradezu zur Obsession mancher Wissenschaftler geworden. Dazu gehört auch das zuerst von den Konstanzer Gelehrten Jan und Aleida Assmann beschriebene Phänomen des "kulturellen Gedächtnisses", demzufolge Geschichte nicht als solche dargestellt wird, sondern durch die Erinnerung an ein Geschehen, wie es sich in Riten, Denkmälern und sozialen Praktiken des Handelns offenbart. Die deutsche Debatte um Erinnerungskultur der vergangenen zehn Jahre wäre ohne die Assmanns nicht denkbar gewesen.
Der Begriff des "kulturellen Gedächtnisses" der Assmanns leitet sich von dem ab, was Maurice Halbwachs in "Les cadres sociaux de la mémoire" (1925, Deutsch: "Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen") das "kollektive Gedächtnis" nannte: "Kein Gedächtnis ist möglich außerhalb des Rahmens welche die Menschen, die in einer Gesellschaft leben, verwenden, um ihre Erinnerungen zu bestimmen und abzurufen".
Halbwachs ist sich gewiss, dass es sich um ein soziales, von der Soziologie zu erfassendes Phänomen handelt. Er meint, im Gegensatz zum individuellen Gedächtnis operiere die kollektive Erinnerung mit einem komplexen Gebilde von Texten und Institutionen, von Menschen und Ideen. Er untersucht besonders das christliche oder, wie er es nennt, das religiöse Gedächtnis, das vor allem auf Geboten, Dogmen und Riten beruht.
Die Assmanns wollen ihr Konzept gegen Halbwachs abgrenzen, doch wirkt ihre Demarkation oft wenig stichhaltig. Für Aleida Assmann ist das kulturelle Gedächtnis "die Tradition in uns, die über Generationen, in jahrhunderte-, ja teilweise jahrtausende-langer Wiederholung gehärteten Texte, Bilder und Riten, die unser Zeit- und Geschichtsbewusstsein, unser Selbst- und Weltbild prägen." Das Problem an dieser Definition ist jedoch die Frage, was mit der "Tradition in uns" gemeint ist. Wer ist dieses "wir"? Wie kann eine Tradition "in" uns sein, da sie doch erst durch die Beziehung zwischen den Generationen entsteht.
Ferner behaupten die Assmanns, das "kulturelle Gedächtnis" sei eine "Tradition", erklären aber nicht, inwiefern ein Gedächtnis sich von einer Tradition unterscheidet. Dieses Gedächtnis habe die Eigenschaft, die gesamte Lebenswelt des Menschen zu bestimmen - "Zeit- und Geschichtsbewusstsein, unser Selbst- und Weltbild". Das widerspricht der Auffassung von Halbwachs insofern, als es das Gedächtnis von seinem sozialen Rahmen - und damit von jeglicher Wirklichkeit - loslöst und verselbständigt.
Das "Gedächtnis" im Assmannschen Modell stellt die Ursache sämtlicher menschlicher Betätigungen dar, es wirkt wie eine Totalerklärung. Alles, was gemeinhin Religion und Mythologie, Philosophie und Wissenschaft, Literatur und Kunst, Ethik und Recht ermöglichten, soll nun das "kulturelle Gedächtnis" leisten; es ist das einzige Erklärungsprinzip. Das bedeutet aber, die Wissenschaft im Irrationalen zu grundieren, alles bleibt im Reich der Behauptungen. Das Assmannsche Geschichtsbild läuft auf eine Substanzialisierung einzelner Völker oder Religionen hinaus - etwa "Juden", "Christen" oder "Muslime", das Soziale, das für Halbwachs grundlegend war, entfällt.