15.3.14

Jakobs Ringkampf mit Gott

In derselben Nacht stand er auf, nahm seine beiden Frauen, seine beiden Mägde sowie seine elf Söhne und durchschritt die Furt des Jabbok. Er nahm sie und ließ sie den Fluss überqueren. Dann schaffte er alles hinüber, was ihm sonst noch gehörte. 
Als nur noch er allein zurückgeblieben war, rang mit ihm ein Mann, bis die Morgenröte aufstieg. Als der Mann sah, dass er ihm nicht beikommen konnte, schlug er ihn aufs Hüftgelenk. Jakobs Hüftgelenk renkte sich aus, als er mit ihm rang. Der Mann sagte: Lass mich los; denn die Morgenröte ist aufgestiegen. Jakob aber entgegnete: Ich lasse dich nicht los, wenn du mich nicht segnest. Jener fragte: Wie heißt du? Jakob, antwortete er. Da sprach der Mann: Nicht mehr Jakob wird man dich nennen, sondern Israel (Gottesstreiter); denn mit Gott und Menschen hast du gestritten und hast gewonnen. Nun fragte Jakob: Nenne mir doch deinen Namen! Jener entgegnete: Was fragst du mich nach meinem Namen? Dann segnete er ihn dort. 
Jakob gab dem Ort den Namen Penuël (Gottesgesicht) und sagte: Ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen und bin doch mit dem Leben davongekommen. Die Sonne schien bereits auf ihn, als er durch Penuël zog; er hinkte an seiner Hüfte. 
Darum essen die Israeliten den Muskelstrang über dem Hüftgelenk nicht bis auf den heutigen Tag; denn er hat Jakob aufs Hüftgelenk, auf den Hüftmuskel geschlagen.
(Genesis 32,23-33 nach der Einheitsübersetzung)


Kann man mit Gott ringen, im wörtlichen und leibhaftigen Sinn, so wie es diese Geschichte erzählt? Und selbst wenn: Kann man Gott besiegen, oder zumindest so weit in Bedrängnis bringen, dass man von ihm etwas erpressen kann? Ist diese Vorstellung nicht ein wenig naiv?
In der Geschichte gibt es einen Hinweis darauf, dass sie vielleicht doch nicht ganz so naiv ist, wie sie auf den ersten Blick erscheint: Als Jakob am Morgen auf sein unheimliches nächtliches Erlebnis zurück blickt, sagt er nicht: Ich habe mit Gott gerungen und ihn gezwungen, mich zu segnen. Sondern er sagt: Ich bin Gott begegnet und mit dem Leben davongekommen.
Im Alten Testament wie im Alten Orient war die Ansicht verbreitet, dass es für Menschen lebensgefährlich ist und nicht selten tödlich ausgeht, wenn sie Gott so nahe kommen, dass sie ihn von Angesicht zu Angesicht sehen. Im Eifer des Gefechts hat Jakob das anscheinend vergessen und ist mit Gott so umgegangen, wie er es mit menschlichen Widersachern (Isaak, Esau, Laban) zu tun pflegte: Er hat mehr oder weniger gewaltsam bzw. trickreich versucht, sie zu seinem eigenen Vorteil zu manipulieren. Ist ihm das auch mit Gott gelungen? Oder hat er das nur gemeint und am Ende der Nacht eingesehen, dass er froh sein kann, die Konfrontation mit Gott überlebt zu haben?
Sieht man noch einmal genauer hin, gibt es schon in der Darstellung des Kampfes selbst Hinweise darauf, dass die Kräfteverhältnisse vielleicht nicht ganz so klar sind, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Gott merkt, dass er Jakob nicht überwältigen kann, aber er kann ihn immerhin so schwer verletzen, dass Jakob den Kampfplatz hinkend verlässt. (Handelt es sich hier um eine vorübergehende Beeinträchtigung oder um einen bleibenden Schaden?) Jakob kann Gott zwingen, ihn zu segnen, aber er kann ihn nicht zwingen, ihm seinen Namen zu verraten. Umgekehrt kann Gott Jakob einen neuen Namen geben - der allerdings nur festhält, dass Jakob Gott besiegt hat. Liest man die Erzählung im größeren Zusammenhang (besonders im Licht von Genesis 12 und 28), kann man zudem vermuten, dass Gott Jakob auch von sich aus gesegnet hätte. Wollte er Jakob diesen Segen nach allem, was inzwischen vorgefallen war, nicht mehr kampflos zukommen lassen? Oder ist es Jakob, der nichts geschenkt haben will und für alles kämpfen zu müssen meint?
Reflektiert diese Erzählung vielleicht auf ihre Weise durchaus nachvollziehbar und zutreffend unsere Stellung als Menschen gegenüber Gott (oder dem Schicksal/Zufall oder der Lebenswirklichkeit)? Wir müssen durchaus nicht alles passiv hinnehmen, was uns widerfährt. Oft lohnt es sich, zu kämpfen, um dem, was unser Leben bedroht, etwas positives (Segen) abzuringen - auch wenn (oder vielleicht gerade weil) uns dieser Kampf verändert, der Erfolg (ein neuer Name: Du gehörst zu den Gewinnern!) nicht ohne Verletzung zu haben ist (der Sieger hinkt vom Schlachtfeld). (Oder bilden wir uns nur ein, kämpfen und arbeiten zu müssen für Dinge, die wir auch gratis bekommen würden?) Am Ende des Tages (bzw. der Nacht) können wir nur froh sein, wenn uns der Kampf nicht umgebracht hat, wenn wir noch einmal mit dem Leben davongekommen sind. Denn wie schon Kohelet gesagt hat: Ein lebender Hund ist allemal besser dran als ein toter Löwe!