22.10.17

Erasmus von Rotterdam - ein Feminist?

War Erasmus ein Feminist?
          Den Anstoss zu diesen Überlegungen gab ein Artikel über "Die Frau in den 'Gesprächen' des Erasmus" von Dora Schmidt. Dieser Aufsatz ist 1945 in der "Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde" erschienen. Dora Schmidt (1895-1985) hat Nationalökonomie, Philologie, Geschichte und Staatsrecht studiert. 1926 wurde sie promoviert. Anschliessend hat sie als erste Frau in leitender Position in der Bundesverwaltung Karriere gemacht. Dann wechselte sie zur Schweizerischen Bankgesellschaft. Dora Schmidt war in der Frauenbewegung aktiv und gründete 1945 den Club der Berufs- und Geschäftsfrauen in Zürich. Bei der Vorbereitung dieser Zeilen habe ich ihren Aufsatz ausgiebig benutzt. Daneben die Übersetzung und Kommentierung einer Auswahl aus den "Vertraulichen Gesprächen" des Erasmus von Kurt Steinmann. Ich möchte das hier ausdrücklich erwähnen und mich nicht mit fremden Federn schmücken.
          In der Zeit vor Erasmus (1466-1536) wurden Frauen weitherum als geistig und sittlich minderwertig angesehen. Teilweise wurde darüber diskutiert, ob Frauen überhaupt eine Seele haben. Rechtlich, gesellschaftlich und familiär wurden die Frauen im Mittelalter in eine sehr untergeordnete Stellung gerückt. Es gab Ausnahmen, wie etwa die Verehrung der Frauen im höfischen Minnesang oder die Bewunderung gebildeter Frauen in der Oberschicht. Für die weit überwiegende Mehrzahl der Frauen sah das Leben aber anders aus.
          Thomas von Aquin war einer der bedeutendsten europäischen Theologen im Mittelalter. Er lehrte, dass Gott die Frau aus dem Mann geschaffen hat - mit dem einen und einzigen Zweck, dem Mann zu helfen. Die Schöpfung der Frau war eigentlich nur deshalb nötig, weil der Mann allein keine Kinder erzeugen kann. Dementsprechend besteht für eine Frau der Sinn und Zweck ihres Lebens darin, ihrem Mann Kinder zu gebären, ihm zu dienen und sich ihm unterzuordnen. Frauen steht es nicht zu zu lehren oder höhere kirchliche Weihen zu empfangen. In der römisch-katholischen Kirche geniesst Thomas von Aquin bis heute ein hohes Ansehen.
          Hält man sich diese damals weit verbreiteten Ansichten und Verhältnisse vor Augen, ist das, was Erasmus verschiedentlich über die Frauen gedacht und geschrieben hat, erstaunlich unkonventionell und zeugt von einem ausserordentlich kritischen und freien Geist. Ich möchte Ihnen dafür zwei Beispiele aus den "Vertraulichen Gesprächen" des Erasmus geben.
          Die "Vertraulichen Gespräche" waren eines der bekanntesten und berühmtesten Werke des Erasmus, ein Bestseller des sechzehnten Jahrhunderts. Eine Auswahl daraus ist in deutscher Übersetzung im Diogenes-Verlag als Taschenbuch erschienen in der Übersetzung von Kurt Steinmann. Eine ältere deutsche Übersetzung kann man im "Projekt Gutenberg" im Internet kostenlos lesen. Hauptzweck der "Colloquia Familiaria" - so der Titel des lateinischen Originals - war es, anhand beispielhafter Gespräche den Lateinschülern gute Formulierungen für den alltäglichen Gebrauch vorzuführen: Wie begrüsst man Freunde, wie erkundigt man sich nach jemandes Wohlbefinden, worüber unterhält man sich beim Essen u. dgl.? Zugleich sollten die Schüler und andere Leser aber auch zum Nachdenken über die besprochenen Themen angeregt werden. Die Form der Gespräche erlaubte es einem kritischen Geist wie Erasmus, gängige Vorurteile in Frage zu stellen und zu verspotten und neue Einsichten und Überlegungen zu formulieren, ohne sich selbst allzusehr zu exponieren und angreifbar zu machen - er konnte sich ja immer darauf zurückziehen, dass das, was die Teilnehmer diese Gespräche sagten, nicht der eigenen Meinung des Erasmus entspricht. In den Gesprächen liess Erasmus Schüler und Mönche, Soldaten und Kaufleute, Wirte und Bettler, Wallfahrer und Dirnen, Ehrenmänner und Gauner und viele andere Figuren aus dem zeitgenössischen Leben zu Wort kommen, Männer und Frauen.
          In einem der Gespräche trifft ein dummdreister Abt namens Antronius ("Höhlenmensch") auf eine gebildete Frau mit Namen Magdalia. Es wird vermutet, dass Erasmus die Figur der Magdalia nach dem Vorbild von Margaret Roper gestaltet hat, der ältesten und Lieblingstochter von Thomas Morus, die Erasmus in England kennengelernt hatte. Der Abt nimmt Anstoss daran, dass Magdalia in ihrer Wohnung viele Bücher hat. So etwas "schickt sich weder für ein Mädchen noch für eine verheiratete Frau", meint Antronius, und dies um so mehr, als es keine französisch geschriebenen Bücher sind, die Magdalia liest, sondern griechische und lateinische. Magdalia fragt ihn: "Vermitteln denn nur französisch geschriebene Bücher Bildung?" Darauf entgegnet Antronius: "Jedenfalls geziemen sich für vornehme Damen nur französische Bücher. Mit ihnen können sie sich köstlich die Zeit vertreiben." Magdalia: "Dürfen nur vornehme Damen Geist haben und ein angenehmes Leben führen?" Antronius: "Du bringst Dinge zusammen, die nichts miteinander zu tun haben: Verstand haben und ein angenehmes Leben führen. Frau und Geist, das schliesst sich aus. Ziel und Inhalt des Daseins vornehmer Frauen ist ein angenehmes Leben."
          Nun entspinnt sich eine Diskussion darüber, was ein angenehmes Leben sei. Magdalia ist der Meinung, "dass ein Mensch nur durch innere Werte glücklich ist. Reichtum, Ehre und Abstammung machen einen weder glücklich noch besser." Antronius dagegen versteht unter einem angenehmen Leben: "Schlafen, Gelage, die Freiheit zu tun, was man will, Geld und Ehren." Für Magdalia ist es angenehmer, "einen guten Autor zu lesen", als "zu jagen, zu saufen oder Würfel zu spielen". Für Antronius "wäre das kein Leben". "Die langen Gebete, die Sorge um den Haushalt, dann die Jagd, die Pferde, der Hofdienst", all das lässt dem Abt Antronius keine Zeit, Bücher zu lesen und sich zu bilden. Er möchte auch nicht, dass seine Mönche "ständig über den Büchern sitzen", weil sie "dann weniger gehorchen", und weil Antronius es hasst, wenn einer seiner Untergebenen mehr weiss als er.
          Völlig unpassend findet es Antronius, wenn Frauen Bücher lesen, um sich zu bilden. Die Geräte der Frau sind Spindel und Rocken, nicht Bücher. "Die Bücher rauben den Frauen viel von ihrer Hirnsubstanz, von der sie ohnehin zu wenig haben." Überhaupt bringt der "innige Umgang mit Büchern ... die Leute um den Verstand." Darauf entgegnet Magdalia: "Und dich bringt das Palaver mit den Saufbrüdern, Witzbolden und Hanswursten nicht um den Verstand?" Worauf Antronius erwidert: "O nein, das vertreibt die Langeweile." Als Andronius wenig später meint: "Ich möchte auf alle Fälle keine gelehrte Frau", antwortet Magdalia: "Ich hingegen beglückwünsche mich, dass ich einen Mann bekommen habe, der dir so gar nicht gleicht. Denn Bildung macht uns einander nur noch lieber."
          Gegen Ende des Gesprächs weist Magdalia darauf hin, dass es gebildete Frauen gibt, die den Männern nicht nachstehen: "Es gibt in Spanien und in Italien nicht wenige Frauen, namentlich unter den vornehmen, die es mit jedem Mann aufnehmen könnten. Es gibt in England solche im Hause Morus, in Deutschland in den Familien Pirckheimer und Blarer. Wenn ihr nicht auf der Hut seid, wird es noch so weit kommen, dass wir in den Theologenschulen den Vorsitz führen und in den Kirchen predigen. Wir werden eure Mitren an uns reissen ... Die Weltszene wandelt sich von Grund auf ..."
          Der Wandel der Weltszene, den Erasmus hier von einer Frau verkünden lässt, geht weit über das hinaus, was sich die Reformatoren seiner Zeit vorgestellt haben. Erasmus war aber nicht der einzige, der damals so "feministisch" gedacht hat. Im Anhang zu seiner deutschen Übersetzung des Dialogs weist Kurt Steinmann darauf hin, dass sich die Hauptthesen dieses Dialogs auch in einem etwa gleichzeitig erschienenen Werk des Spaniers Juan Luis Vives finden, das Erasmus stark beeinflusst habe. "Erasmus und Vives sind sich einig darin, dass Lernen keine moralischen Gefahren in sich birgt und häuslicher Eintracht nicht im Weg steht."
          Ein anderes der "Vertraulichen Gespräche" stellt uns die erste Zusammenkunft eines "Frauensenats" vor Augen. Er wird eröffnet mit der kämpferischen Rede einer Frau namens Cornelia. Sie ruft ihren Genossinnen zu: "Ihr alle wisst ..., wie abträglich es unseren Interessen ist, dass die Männer in täglichen Versammlungen ihre Geschäfte betreiben, wir aber beim Spinnrocken und Webstuhl sitzen und unsere Sache im Stich lassen müssen. So ist es dahin gekommen, dass wir überhaupt nicht solidarisch und organisiert sind und die Männer uns gewissermassen als Lustobjekte betrachten und kaum des Namens Mensch für würdig erachten. Wenn wir so weiterfahren, so könnt ihr euch selber ausrechnen, was schliesslich herauskommen wird ..."
          "Wenn die Frauen immer schweigen sollten", sagt Claudia, "wozu hat uns die Natur nicht minder schlagfertige Zungen verliehen als den Männern und eine nicht weniger wohlklingende Stimme? Ohnehin tönt die Stimme der Männer rauher und erinnert mehr an die Esel als die unsere ... Dürfte man ihre Sitzungen wahrheitsgetreu beurteilen, so würden sie uns mehr als weibisch vorkommen. Die Herrscher sehen wir schon seit so vielen Jahren nichts anderes tun als Krieg führen; zwischen den Theologen, Priestern, Bischöfen und dem Volk fehlt es völlig an Übereinstimmung: So viele Menschen, so viele Meinungen! Ihre Wankelmütigkeit ist mehr als weibisch. Keine Stadt verträgt sich mit der andern, kein Nachbar mit dem Nachbarn. Hätten wir die Zügel in der Hand, die Beziehungen unter den Menschen gestalteten sich wahrscheinlich bedeutend erträglicher."
          Eine andere Teilnehmerin, Katharina, nennt gegen Ende des Gesprächs einige "Punkte, die wir mit den Männern bereinigen müssen, die uns von allen Ämtern und Ehrenstellen ausschliessen und fast nur wie Waschweiber und Küchentrottel behandeln, selber aber alles nach eigenem Gutdünken regeln. Wir werden ihnen ... die Staatsämter und das Kriegswesen zugestehen. Ist es aber ... nicht mehr als recht, dass bei der Aussteuer der Kinder auch die Mutter mitbestimmen kann? Vielleicht werden wir auch duchsetzen, dass wir abwechselnd die Amtsgeschäfte führen, freilich uns beschränkend auf jene Aufgaben, die innerhalb der Stadtmauern und ohne Waffen gelöst werden können. Das sind die Kernpunkte, worüber zu beraten sich wohl die Mühe lohnt."
          Man sieht hier gut, dass auch ein Mensch wie Erasmus, der seiner Zeit weit voraus ist, indem er es für möglich hält, dass Frauen sich mit Männern in den Amtsgeschäften abwechseln, zugleich ein Kind seiner Zeit bleibt: Dass Frauen genauso wie Männer auch ausserhalb der Stadtmauern mit Waffen ihr Gemeinwesen verteidigen könnten, das kann sich Erasmus nicht vorstellen.
          Erasmus sieht, dass Frauen in der von Männern beherrschten Kultur seiner Zeit durchaus auch Vorteile gegenüber den Männern haben. So lässt er Cornelia sagen: "Wenn wir auch nicht wenig Ursache haben, uns mit Recht zu beklagen, so ist doch alles in allem unsere Lage komfortabler als die ihre. Um ein Vermögen zu erwerben, durcheilen sie, nicht ohne Gefahr für Leib und Leben, alle Länder und Meere; bricht ein Krieg aus, so ruft die Trompete sie ins Feld, und eisengepanzert stehen sie an der Front, während wir unbehelligt zu Hause sitzen. Begehen sie einen Rechtsbruch, so wird strenger gegen sie vorgegangen, unser Geschlecht wird eher geschont. Letzten Endes liegt es zum grossen Teil an uns, ob wir angenehme Ehemänner haben."
          Vielleicht sieht Erasmus hier die Lage der Frauen in seiner Zeit auch zu optimistisch - zumal er vor allem die vornehmen und besser gestellten Frauen im Blick hat. Heute jedenfalls leidet die Zivilbevölkerung, leiden Frauen und Kinder unter einem Krieg wohl nicht weniger als die kämpfende Truppe - zumal, wenn Distanzwaffen wie Bomben, Raketen oder ferngesteuerte Drohnen im Spiel sind. Aber auch zu Erasmus' Zeiten gab es schon Plünderungen und Vergewaltigungen im Krieg, von denen zuerst die Frauen betroffen waren.
          Im "Frauensenat" geht es nicht nur um die Rechte der Frauen gegenüber den Männern, sondern auch um die Rechte und Pflichten der Frauen untereinander, der alten und der jungen, der verheirateten und der unverheirateten, der vornehmen und der weniger vornehmen bis hin zu Prostituierten. Auch die Frage, welche Frauen sich ihrem Stand entsprechend wie zu kleiden haben spielen eine wichtige Rolle. Wenn wir das heute lesen, könnten wir meinen, Erasmus wolle sich hier augenzwinkernd über die Frauen lustig machen oder sie sogar dafür kritisieren, dass sie ihre Zeit und Energie auf solche eher nebensächlichen Probleme verschwenden. Kurt Steinmann weist aber im Kommentar zu seiner Übersetzung darauf hin, dass das wohl ein Missverständnis ist. Für Erasmus war die Gleichheit aller Menschen eine innere und absolute. Damit war eine äussere Rangordnung unter den Menschen für ihn durchaus vereinbar. Ausserdem waren Fragen der Mode, der Haartracht und exquisiter Materialien wichtige Punkte der Luxusgesetze, die im 15. und 16. Jahrhundert erlassen wurden um der Verschwendung, dem Prunk und der Eitelkeit Grenzen zu setzen. Erasmus war nicht der einzige, der in seiner Zeit die Eitelkeit der Frauen kritisierte - und er "hatte in seinem Leben einen vollständigen Wandel der Mode erlebt". Immerhin traute er es den Frauen zu, solche Dinge selber zu regeln, statt die Männer bestimmen zu lassen, wie sie sich zu kleiden und zu benehmen hatten.
          War Erasmus also ein Feminist? Das hängt davon ab, was man genau unter Feminismus versteht. Jedenfalls hat Erasmus einige kulturelle und religiöse Vorurteile gegenüber Frauen, die in seiner Zeit verbreitet waren, kritisiert und lächerlich gemacht, und er hat die Vorherrschaft der Männer in der Kirche und in der Politik grundsätzlich in Frage gestellt - im Geist des Humanismus, der Aufklärung - und damit auch des Christentums.