21.12.20

"Er stürzt die Mächtigen vom Thron!" Warten auf den Umsturz Gottes?

Lukas erzählt von Jesus' Geburt ...

Die Geschichten rund um die Geburt von Jesus in den ersten beiden Kapiteln des Lukasevangeliums sind wohl erst ein halbes Jahrhundert nach dem Tod von Jesus entstanden und mehr oder weniger frei erfunden. Trotzdem sind diese Geschichten interessant und lehrreich! Lassen wir uns einfach einmal auf sie ein, tauchen wir ein in die fremde und etwas seltsame Welt, die sie uns vor Augen stellen!

Ein revolutionäres Milieu ...

Es ist eine Welt, in der Engel Menschen erscheinen und ihnen Wunder ankündigen.

Da sind der Priester Zacharias und seine Frau Elisabeth, ein kinderloses altes Ehepaar. Elisabeth ist längst jenseits des gebärfähigen Alters. Eines Tages erscheint ein Engel erscheint dem Zacharias im Tempel beim Gottesdienst und spricht zu ihm: „Ihr werdet ein Kind bekommen. Es soll Johannes heissen (= Jahwe ist gnädig / hat Erbarmen). Er wird wirken im Geist und in der Kraft des Propheten Elija. Er wird dem Messias den Weg bereiten.“

Da ist Maria, verlobt, aber noch Jungfrau, wohl noch im Teenageralter. Zu ihr kommt eines Tages der Engel Gabriel und spricht zu ihr: „Du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären. Du sollst ihm den Namen Jesus geben (= Josua = Jahwe ist Rettung). Er wird gross sein und Sohn des Höchsten (Gottes) genannt werden. Gott, der Herr, wird ihm den Thron seines Vaters David geben. Er wird König sein über das Haus Jakob (= das Volk Israel) in Ewigkeit. Seine Herrschaft wird kein Ende haben.“

Maria vertraut darauf, dass diese Ankündigungen sich erfüllen werden. In ihrem Lobgesang spricht sie so, als hätten sie sich schon erfüllt: „Gott hat Gewaltiges vollbracht mit seinem Arm. Er hat zerstreut, die hochmütig sind in ihrem Herzen. Er hat Mächtige vom Thron gestürzt und Niedrige erhöht. Er hat Hungrige satt gemacht mit Gutem und Reiche leer ausgehen lassen. Er hat sich Israels angenommen, seines Dieners, wie er es unseren Vorfahren versprochen hat, Abraham und seinen Nachkommen in Ewigkeit.“

Als Jesus gerade geboren ist, in einem Stall in Bethlehem, verkündet ein Engel den Hirten, die in der Nähe bei ihren Schafen und Ziegen Nachtwache hielten: „Euch wurde heute der Retter geboren, der Gesalbte (griechisch: Christus, hebräisch: Messias), der Herr, in der Stadt Davids.“

Acht Tage später, als das Baby Jesus im Tempel in Jerusalem beschnitten wird, kommt ein alter Mann namens Simon hinzu, dem Gott versprochen hat: „Du wirst nicht sterben, bevor du den Messias gesehen hast.“ Simon nimmt den kleinen Jesus auf die Arme und sagt: „Nun lässt du deinen Diener gehen, Herr, in Frieden, wie du gesagt hast, denn meine Augen haben das Heil gesehen, das du vor den Augen aller Völker bereitet hast, ein Licht zur Erleuchtung der Heiden und zur Verherrlichung deines Volkes Israel.“

Schliesslich tritt auch noch eine ebenfalls hochbetagte Prophetin namens Hanna auf und preist Gott und spricht von ihm zu allen, die auf die Erlösung Jerusalems warteten.

Ein umstürzlerisches und revolutionäres Milieu ist es, in das Jesus da hinein geboren wird. Schliesslich steht Jerusalem und das ganze Heilige Land unter der Herrschaft der Römer und ihrer Vasallen wie z.B. Herodes Antipas in Galiläa und Peräa. In Jerusalem und Judäa ist Pontius Pilatus Statthalter der Römer. Nicht wenige Juden hoffen auf einen Umsturz oder mit versuchen sogar, mit terroristischen Anschlägen einen Umsturz herbeizuführen und die römische Besatzungsmacht aus ihrem Land zu vertreiben. Immer wieder treten Menschen als Messias auf - und werden in der Regel irgendwann aufgespürt und zusammen mit ihren Anhängern grausam hingerichtet, vorzugsweise gekreuzigt.

Ein Kind als Hoffnungsträger ...

Wie wächst ein Kind auf, dessen Umfeld davon überzeugt ist, es sei der Messias, es werde, wenn es gross ist, die Revolution Gottes durchführen, die Mächtigen vom Thron stürzen, die Hungrigen satt machen, die Römer vertreiben?

Bringt man ihm schon als Kind bei, mit Waffen umzugehen und Attentate zu verüben? Oder behält man seine Erwartungen für sich, um das Kind nicht zu gefährden?

Wie ist es für ein Kind, aufzuwachsen unter der Erwartung, es sei etwas ganz Besonderes, der Retter, der Erlöser, der künftige König Israels?

Hat Jesus als Erwachsener die Erwartungen und Hoffnungen seiner Mutter erfüllt? Lesen wir weiter im Lukasevangelium!

Enttäuschte Hoffnungen?

Jesus spricht zu den Menschen davon, dass die Herrschaft Gottes, das Reich Gottes „nahe gekommen“ ist. Aber wenn er das Reich Gottes mit Gleichnissen beschreibt, klingt es nicht nach einem politischen Umsturz und einer Vertreibung der Römer, sondern eher danach, dass Menschen wieder zueinander finden, dass Menschen lernen, miteinander auszukommen, dass sie lernen, was wirklich wichtig ist im Leben, und sich dafür einzusetzen.

Jesus heilt Menschen und treibt Dämonen aus. Und er sagt: „Wenn ich durch den Finger Gottes die Dämonen austreibe, dann ist das Reich Gottes bei euch angekommen.“

Als die Pharisäer ihn fragen: Wann kommt das Reich Gottes? antwortet er ihnen: „Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es beobachten könnte. Man wird auch nicht sagen können: Hier ist es! oder: Dort ist es! Denn seht, das Reich Gottes ist mitten unter euch.“

Wartet nicht auf einen Umsturz der Verhältnisse, wartet nicht darauf, dass Gott eine bessere Welt schafft. Lebt einfach so, wie ihr meint, dass das Leben in einer besseren Welt sein sollte. Ihr könnt mehr bewirken, als ihr meint. Vielleicht ist es sogar manchmal besser, wenn ihr gar nichts tut und einfach geschehen lasst, was Gott euch an Möglichkeiten zuspielt.

Sagt Jesus damit die Revolution ab, die seine Mutter so sehnsüchtig erwartet hat? Oder spricht er von einer noch radikaleren Revolution - einer Revolution, die nicht die Hungrigen satt macht und die Satten hungrig, sondern den Hunger abschafft - einer Revolution, die nicht die Mächtigen vom Thron stürzt und die Machtlosen auf den Thron setzt, sondern die Throne umstürzt - eine Revolution die nicht den Kolonialismus, die Herrschaft der mächtigen Völker über die schwachen beseitigt, sondern die Grenzen der Völker sprengt und alle Menschen zu Schwestern und Brüdern macht?

Am Ende hängt Jesus am Kreuz, wie ein Aufrührer oder Terrorist, hingerichtet von den Römern, der Besatzungsmacht. Über ihm hatten die Römer eine Inschrift angebracht, um ihn zu verspotten und zu demütigen: „Dies ist der König der Juden.“

Nach dem Johannesevangelium war Jesus‘ Mutter dabei, als er gekreuzigt wurde. Matthäus, Markus und Lukas erwähnen sie nicht.

Was dachte sie, falls sie die Hinrichtung ihres Sohnes miterlebt hat? Dass er ihre Erwartungen enttäuscht hat, dass er Israel nicht befreit hat von der Herrschaft der Römer und vom Hunger, dass er das Königreich seines Vorfahren David nicht wieder aufgerichtet hat?

Oder sah sie die Erwartungen und Hoffnungen, die sie als junge Frau hatte, jetzt in einem neuen Licht, sagte sie: die Revolution Gottes geschieht anders als ich es mir damals als junge Frau vorgestellt habe - nicht mit einem grossen Knall, sondern in vielen kleinen Schritten?

Ein Umsturz der anderen Art?

Am Anfang der Apostelgeschichte, der Fortsetzung seines Evangeliums, erzählt Lukas, dass Jesus nach seiner Auferstehung immer wieder seinen Aposteln erschienen ist und mit ihnen über das Reich Gottes gesprochen hat. Dabei haben ihn seine Jüngerinnen und Jünger gefragt: „Herr, wirst du noch in dieser Zeit deine Herrschaft wieder aufrichten für Israel?“ Jesus hat ihnen geantwortet: „Euch gebührt es nicht, Zeiten und Fristen zu erfahren, die der Vater in seiner Vollmacht festgesetzt hat. Aber ihr werdet Kraft empfangen, wenn der heilige Geist über euch kommt, und ihr werdet meine Zeugen sein, in Jerusalem, in ganz Judäa, in Samaria und bis ans Ende der Erde.“

Die politischen Hoffnungen der Jüngerinnen und Jünger auf ein messianisches Königreich in Israel haben sich bis heute nicht erfüllt. Aber von damals bis heute haben Menschen im Geist und in der Kraft Gottes Kranke gepflegt und manchmal auch geheilt, haben die Grenzen der Klassen, der Nationen, der Kulturen und Religionen übersprungen, haben Hunger und Durst gelindert, haben Nackte bekleidet, haben Gefangene besucht und befreit, haben sich eingesetzt für Recht und Gerechtigkeit, haben das Feuer der Liebe entzündet gegen die Dunkelheit, die Kälte, die Einsamkeit.

18.8.20

"Kulturelles Gedächtnis" (Adler / Assmann)

 Jeremy Adler hat in der "Welt" vom 20. Juni 2020 eine präzise und konzise Kritik der Theorie des "kulturellen Gedächtnisses" vorgelegt, die in den letzten Jahrzehnten von Jan und Aleida Assmann vertreten wurde und die kulturwissenschaftliche sowie mehr noch die feuilletonistische Diskussion stark beeinflusst hat - nicht unbedingt zu deren Vorteil.

In jüngster Zeit feiert das Studium des Gedächtnisses Konjunktur. Wie schon oft bemerkt wurde, ist es geradezu zur Obsession mancher Wissenschaftler geworden. Dazu gehört auch das zuerst von den Konstanzer Gelehrten Jan und Aleida Assmann beschriebene Phänomen des "kulturellen Gedächtnisses", demzufolge Geschichte nicht als solche dargestellt wird, sondern durch die Erinnerung an ein Geschehen, wie es sich in Riten, Denkmälern und sozialen Praktiken des Handelns offenbart. Die deutsche Debatte um Erinnerungskultur der vergangenen zehn Jahre wäre ohne die Assmanns nicht denkbar gewesen. 

Der Begriff des "kulturellen Gedächtnisses" der Assmanns leitet sich von dem ab, was Maurice Halbwachs in "Les cadres sociaux de la mémoire" (1925, Deutsch: "Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen") das "kollektive Gedächtnis" nannte: "Kein Gedächtnis ist möglich außerhalb des Rahmens welche die Menschen, die in einer Gesellschaft leben, verwenden, um ihre Erinnerungen zu bestimmen und abzurufen".

Halbwachs ist sich gewiss, dass es sich um ein soziales, von der Soziologie zu erfassendes Phänomen handelt. Er meint, im Gegensatz zum individuellen Gedächtnis operiere die kollektive Erinnerung mit einem komplexen Gebilde von Texten und Institutionen, von Menschen und Ideen. Er untersucht besonders das christliche oder, wie er es nennt, das religiöse Gedächtnis, das vor allem auf Geboten, Dogmen und Riten beruht.

Die Assmanns wollen ihr Konzept gegen Halbwachs abgrenzen, doch wirkt ihre Demarkation oft wenig stichhaltig. Für Aleida Assmann ist das kulturelle Gedächtnis "die Tradition in uns, die über Generationen, in jahrhunderte-, ja teilweise jahrtausende-langer Wiederholung gehärteten Texte, Bilder und Riten, die unser Zeit- und Geschichtsbewusstsein, unser Selbst- und Weltbild prägen." Das Problem an dieser Definition ist jedoch die Frage, was mit der "Tradition in uns" gemeint ist. Wer ist dieses "wir"? Wie kann eine Tradition "in" uns sein, da sie doch erst durch die Beziehung zwischen den Generationen entsteht. 

Ferner behaupten die Assmanns, das "kulturelle Gedächtnis" sei eine "Tradition", erklären aber nicht, inwiefern ein Gedächtnis sich von einer Tradition unterscheidet. Dieses Gedächtnis habe die Eigenschaft, die gesamte Lebenswelt des Menschen zu bestimmen - "Zeit- und Geschichtsbewusstsein, unser Selbst- und Weltbild". Das widerspricht der Auffassung von Halbwachs insofern, als es das Gedächtnis von seinem sozialen Rahmen - und damit von jeglicher Wirklichkeit - loslöst und verselbständigt.

Das "Gedächtnis" im Assmannschen Modell stellt die Ursache sämtlicher menschlicher Betätigungen dar, es wirkt wie eine Totalerklärung. Alles, was gemeinhin Religion und Mythologie, Philosophie und Wissenschaft, Literatur und Kunst, Ethik und Recht ermöglichten, soll nun das "kulturelle Gedächtnis" leisten; es ist das einzige Erklärungsprinzip. Das bedeutet aber, die Wissenschaft im Irrationalen zu grundieren, alles bleibt im Reich der Behauptungen. Das Assmannsche Geschichtsbild läuft auf eine Substanzialisierung einzelner Völker oder Religionen hinaus - etwa "Juden", "Christen" oder "Muslime", das Soziale, das für Halbwachs grundlegend war, entfällt.