Lukas erzählt von Jesus' Geburt ...
Die Geschichten rund um die Geburt von Jesus in den ersten beiden Kapiteln des Lukasevangeliums sind wohl erst ein halbes Jahrhundert nach dem Tod von Jesus entstanden und mehr oder weniger frei erfunden. Trotzdem sind diese Geschichten interessant und lehrreich! Lassen wir uns einfach einmal auf sie ein, tauchen wir ein in die fremde und etwas seltsame Welt, die sie uns vor Augen stellen!
Ein revolutionäres Milieu ...
Es ist eine Welt, in der Engel Menschen erscheinen und ihnen Wunder
ankündigen.
Da sind der Priester Zacharias und seine Frau Elisabeth, ein kinderloses
altes Ehepaar. Elisabeth ist längst jenseits des gebärfähigen Alters. Eines
Tages erscheint ein Engel erscheint dem Zacharias im Tempel beim Gottesdienst
und spricht zu ihm: „Ihr werdet ein Kind bekommen. Es soll Johannes heissen (=
Jahwe ist gnädig / hat Erbarmen). Er wird wirken im Geist und in der Kraft des
Propheten Elija. Er wird dem Messias den Weg bereiten.“
Da ist Maria, verlobt, aber noch Jungfrau, wohl noch im Teenageralter. Zu
ihr kommt eines Tages der Engel Gabriel und spricht zu ihr: „Du wirst schwanger
werden und einen Sohn gebären. Du sollst ihm den Namen Jesus geben (= Josua =
Jahwe ist Rettung). Er wird gross sein und Sohn des Höchsten (Gottes) genannt
werden. Gott, der Herr, wird ihm den Thron seines Vaters David geben. Er wird
König sein über das Haus Jakob (= das Volk Israel) in Ewigkeit. Seine
Herrschaft wird kein Ende haben.“
Maria vertraut darauf, dass diese Ankündigungen sich erfüllen werden. In
ihrem Lobgesang spricht sie so, als hätten sie sich schon erfüllt: „Gott hat
Gewaltiges vollbracht mit seinem Arm. Er hat zerstreut, die hochmütig sind in
ihrem Herzen. Er hat Mächtige vom Thron gestürzt und Niedrige erhöht. Er hat
Hungrige satt gemacht mit Gutem und Reiche leer ausgehen lassen. Er hat sich
Israels angenommen, seines Dieners, wie er es unseren Vorfahren versprochen
hat, Abraham und seinen Nachkommen in Ewigkeit.“
Als Jesus gerade geboren ist, in einem Stall in Bethlehem, verkündet ein
Engel den Hirten, die in der Nähe bei ihren Schafen und Ziegen Nachtwache
hielten: „Euch wurde heute der Retter geboren, der Gesalbte (griechisch:
Christus, hebräisch: Messias), der Herr, in der Stadt Davids.“
Acht Tage später, als das Baby Jesus im Tempel in Jerusalem beschnitten
wird, kommt ein alter Mann namens Simon hinzu, dem Gott versprochen hat: „Du
wirst nicht sterben, bevor du den Messias gesehen hast.“ Simon nimmt den
kleinen Jesus auf die Arme und sagt: „Nun lässt du deinen Diener gehen, Herr,
in Frieden, wie du gesagt hast, denn meine Augen haben das Heil gesehen, das du
vor den Augen aller Völker bereitet hast, ein Licht zur Erleuchtung der Heiden
und zur Verherrlichung deines Volkes Israel.“
Schliesslich tritt auch noch eine ebenfalls hochbetagte Prophetin namens
Hanna auf und preist Gott und spricht von ihm zu allen, die auf die Erlösung
Jerusalems warteten.
Ein umstürzlerisches und revolutionäres Milieu ist es, in das Jesus da
hinein geboren wird. Schliesslich steht Jerusalem und das ganze Heilige Land
unter der Herrschaft der Römer und ihrer Vasallen wie z.B. Herodes Antipas in
Galiläa und Peräa. In Jerusalem und Judäa ist Pontius Pilatus Statthalter der
Römer. Nicht wenige Juden hoffen auf einen Umsturz oder mit versuchen sogar,
mit terroristischen Anschlägen einen Umsturz herbeizuführen und die römische
Besatzungsmacht aus ihrem Land zu vertreiben. Immer wieder treten Menschen als
Messias auf - und werden in der Regel irgendwann aufgespürt und zusammen mit ihren
Anhängern grausam hingerichtet, vorzugsweise gekreuzigt.
Wie wächst ein Kind auf, dessen Umfeld davon überzeugt ist, es sei der
Messias, es werde, wenn es gross ist, die Revolution Gottes durchführen, die
Mächtigen vom Thron stürzen, die Hungrigen satt machen, die Römer vertreiben?
Bringt man ihm schon als Kind bei, mit Waffen umzugehen und Attentate zu
verüben? Oder behält man seine Erwartungen für sich, um das Kind nicht zu
gefährden?
Wie ist es für ein Kind, aufzuwachsen unter der Erwartung, es sei etwas
ganz Besonderes, der Retter, der Erlöser, der künftige König Israels?
Hat Jesus als Erwachsener die Erwartungen und Hoffnungen seiner Mutter
erfüllt? Lesen wir weiter im Lukasevangelium!
Enttäuschte Hoffnungen?
Jesus spricht zu den Menschen davon, dass die Herrschaft Gottes, das
Reich Gottes „nahe gekommen“ ist. Aber wenn er das Reich Gottes mit
Gleichnissen beschreibt, klingt es nicht nach einem politischen Umsturz und
einer Vertreibung der Römer, sondern eher danach, dass Menschen wieder
zueinander finden, dass Menschen lernen, miteinander auszukommen, dass sie
lernen, was wirklich wichtig ist im Leben, und sich dafür einzusetzen.
Jesus heilt Menschen und treibt Dämonen aus. Und er sagt: „Wenn ich
durch den Finger Gottes die Dämonen austreibe, dann ist das Reich Gottes bei
euch angekommen.“
Als die Pharisäer ihn fragen: Wann kommt das Reich Gottes? antwortet er
ihnen: „Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es beobachten könnte. Man
wird auch nicht sagen können: Hier ist es! oder: Dort ist es! Denn seht, das
Reich Gottes ist mitten unter euch.“
Wartet nicht auf einen Umsturz der Verhältnisse, wartet nicht darauf,
dass Gott eine bessere Welt schafft. Lebt einfach so, wie ihr meint, dass das
Leben in einer besseren Welt sein sollte. Ihr könnt mehr bewirken, als ihr
meint. Vielleicht ist es sogar manchmal besser, wenn ihr gar nichts tut und
einfach geschehen lasst, was Gott euch an Möglichkeiten zuspielt.
Sagt Jesus damit die Revolution ab, die seine Mutter so sehnsüchtig
erwartet hat? Oder spricht er von einer noch radikaleren Revolution - einer
Revolution, die nicht die Hungrigen satt macht und die Satten hungrig, sondern
den Hunger abschafft - einer Revolution, die nicht die Mächtigen vom Thron
stürzt und die Machtlosen auf den Thron setzt, sondern die Throne umstürzt -
eine Revolution die nicht den Kolonialismus, die Herrschaft der mächtigen
Völker über die schwachen beseitigt, sondern die Grenzen der Völker sprengt und
alle Menschen zu Schwestern und Brüdern macht?
Am Ende hängt Jesus am Kreuz, wie ein Aufrührer oder Terrorist,
hingerichtet von den Römern, der Besatzungsmacht. Über ihm hatten die Römer
eine Inschrift angebracht, um ihn zu verspotten und zu demütigen: „Dies ist der
König der Juden.“
Nach dem Johannesevangelium war Jesus‘ Mutter dabei, als er gekreuzigt
wurde. Matthäus, Markus und Lukas erwähnen sie nicht.
Was dachte sie, falls sie die Hinrichtung ihres Sohnes miterlebt hat?
Dass er ihre Erwartungen enttäuscht hat, dass er Israel nicht befreit hat von
der Herrschaft der Römer und vom Hunger, dass er das Königreich seines
Vorfahren David nicht wieder aufgerichtet hat?
Oder sah sie die Erwartungen und Hoffnungen, die sie als junge Frau
hatte, jetzt in einem neuen Licht, sagte sie: die Revolution Gottes geschieht
anders als ich es mir damals als junge Frau vorgestellt habe - nicht mit einem
grossen Knall, sondern in vielen kleinen Schritten?
Ein Umsturz der anderen Art?
Am Anfang der Apostelgeschichte, der Fortsetzung seines Evangeliums,
erzählt Lukas, dass Jesus nach seiner Auferstehung immer wieder seinen Aposteln
erschienen ist und mit ihnen über das Reich Gottes gesprochen hat. Dabei haben
ihn seine Jüngerinnen und Jünger gefragt: „Herr, wirst du noch in dieser Zeit
deine Herrschaft wieder aufrichten für Israel?“ Jesus hat ihnen geantwortet:
„Euch gebührt es nicht, Zeiten und Fristen zu erfahren, die der Vater in seiner
Vollmacht festgesetzt hat. Aber ihr werdet Kraft empfangen, wenn der heilige Geist
über euch kommt, und ihr werdet meine Zeugen sein, in Jerusalem, in ganz Judäa,
in Samaria und bis ans Ende der Erde.“
Die politischen Hoffnungen der Jüngerinnen und Jünger auf ein messianisches Königreich in Israel haben sich bis heute nicht erfüllt. Aber von damals bis heute haben Menschen im Geist und in der Kraft Gottes Kranke gepflegt und manchmal auch geheilt, haben die Grenzen der Klassen, der Nationen, der Kulturen und Religionen übersprungen, haben Hunger und Durst gelindert, haben Nackte bekleidet, haben Gefangene besucht und befreit, haben sich eingesetzt für Recht und Gerechtigkeit, haben das Feuer der Liebe entzündet gegen die Dunkelheit, die Kälte, die Einsamkeit.