7.2.12

Gott besteht auf Wahrheit

In seinem „großen Buch der rabbinischen Weisheit“ (Freiburg im Breisgau 2008, S. 52) präsentiert Jakob J. Petuchowski unter der Überschrift „Gott besteht auf Wahrheit“ die folgende Passage aus dem Babylonischen Talmud (nach b. Joma 69b):

«Moses war gekommen und hatte gesagt: „Der große Gott, mächtig und furchterregend“ (Deuteronomium 10,17).

Da kam Jeremia und sprach: „Fremde zerstören Seinen Tempel. Und wo sind Seine furchterregenden Taten?“ Darum ließ er (in Jeremia 32,17f.) das Attribut „furchterregend“ aus.

Daniel kam und sprach: „Fremde versklaven Seine Söhne. Und wo sind Seine mächtigen Taten?“ Darum ließ er (in Daniel 9,4ff.) das Attribut „mächtig“ aus.

Aber wie konnten Jeremia und Daniel etwas von Moses Vorgeschriebenes auslassen? Rabbi Eleasar sagte: „Weil sie wussten, dass der Heilige, gelobt sei Er, auf Wahrheit besteht, konnten sie keine Unwahrheiten über Ihn aussprechen.“»

Um diese Geschichte und ihre Pointe verstehen zu können, muss man sich die drei Bibelstellen vor Augen halten, auf die sie Bezug nimmt.

In Deuteronomium 10,17 sagt Mose von Jahwe, dem Gott der Israeliten, er sei «der große Gott, mächtig und furchterregend» -
hebräisch:
האל הגדל הגבר והנורא

In Jeremia 32,18 wird Jahwe in einem Gebet «der große, mächtige Gott» genannt –
hebräisch:
האל הגדל הגבר

In Daniel 9,4 schließlich wird Jahwe angesprochen als «der große und furchterregende Gott»
hebräisch:
האל הגדל והנורא

Hält man die drei Stellen nebeneinander, die – abgesehen davon, dass sie jetzt alle in der Bibel stehen – eigentlich nichts miteinander zu tun haben (vgl. auch Nehemia 1,5; 9,32), entsteht der Eindruck, dass die Propheten Jeremia und Daniel, die nach Mose gewirkt haben, aus dessen Titulatur Gottes jeweils ein Wort weggelassen haben.

Der Talmud unterstellt nun, dass dies absichtlich geschehen ist, und fragt nach den Gründen, die Jeremia und Daniel dazu bewogen haben.

Antwort: Jeremia hat erlebt, wie die Babylonier den Tempel Jahwes in Jerusalem zerstört haben (vgl. Jeremia 52). Als «furchterregender» Gott hätte Jahwe das verhindern können. Er hat es aber nicht getan. Deshalb kann Jeremia ihn nicht mehr – wie Mose – «furchterregend» nennen.

Ebenso hat Daniel am eigenen Leib erlebt, wie die Babylonier die unterlegenen Judäer versklavt haben (vgl. Daniel 1). Wäre Jahwe wirklich «mächtig», hätte er sich dagegen zur Wehr setzen können. Weil er das nicht getan hat, nennt Daniel ihn nicht mehr einen «mächtigen» Gott.

Nach Ansicht des Talmud haben Jeremia und Daniel damit «etwas von Mose Vorgeschriebenes ausgelassen». Nun hat aber Mose den Israeliten eingeschärft: «Ihr dürft nichts hinzufügen zu dem Wort, das ich euch gebiete, und dürft auch nichts davon wegnehmen» (Deuteronomium 4,2; vgl. 13,1). Genau genommen bezieht sich das eigentlich nur auf die Gebote und Verbote der Thora, so dass man fragen kann, ob auch die Titulatur Gottes in Deuteronomium 10,17 so verpflichtend ist, dass man daran nichts ändern darf. Der Talmud legt hier die Verpflichtung zur Thoratreue recht eng aus.

Er tut das aber nur, um die Freiheit Jeremias und Daniels gegenüber der Thora herauszustellen. Sie durften nicht nur, sie mussten sogar von der Thora, ihrer maßgeblichen religiösen Überlieferung, abweichen, denn diese Überlieferung stimmte nicht mehr mit ihrer Wirklichkeitserfahrung überein! Gott legt mehr Wert auf die Wahrheit als auf die Tradition. Ihm ist es wichtiger, dass das, was Menschen über ihn sagen, mit ihrer Wirklichkeitserfahrung übereinstimmt, als dass sie einfach wiederholen, was die religiöse Überlieferung über ihn sagt – und sei es auch eine so ehrwürdige und maßgebliche Überlieferung wie die Thora Moses – und gehe es auch, wie in diesem Fall, um Gottes Ruhm und Ehre.

Dass Gott die Wahrheit wichtiger ist als sein guter Ruf, denkt auch Hiob, wenn er seine drei Freunden, die Gott gegen Hiobs Klagen und Anklagen zu verteidigen versuchen, warnt: «Wollt ihr Falsches reden für Gott und Lügen vorbringen für ihn? Wollt ihr für ihn Partei ergreifen oder den Rechtsstreit führen für Gott? Geht es gut aus, wenn er euch erforscht, und könnt ihr ihn täuschen, wie man Menschen täuscht? Hart wird er euch zurechtweisen, wenn ihr versteckt Partei ergreift. Wird nicht seine Hoheit euch ängstigen und sein Schrecken euch überfallen?» (Hiob 13,7ff. nach der Zürcher Bibel).

In seiner Nacherzählung der Talmudpassage aus b. Joma 69b hat Jakob Petuchowski einen Abschnitt ausgelassen, in dem die Freiheit Jeremias und Daniels gegenüber der mosaischen Überlieferung zwar nicht kritisiert oder bestritten wird – Rabbi Eleasar behält das letzte Wort –, der aber doch ein stärkeres Festhalten an der Tradition verteidigt. In der Übersetzung von Lazarus Goldschmidt (Der Babylonische Talmud, Dritter Band, Berlin 1930, S. 192) lautet dieser Abschnitt (mit zwei kleinen Korrekturen) so:

«Alsdann kamen jene (gemeint sind die «Männer der Großen Versammlung», die Weisen der nach-prophetischen Zeit des Zweiten Tempels) und sprachen: Im Gegenteil, dies ist seine Macht, dass er sich seiner Erregung bemächtigt und langmütig ist gegen die Frevler; das sind seine Furchtbarkeiten, denn wie[..] könnte sonst ohne die Furcht[…] des Heiligen, gepriesen sei er, eine Nation unter all den weltlichen Völkern bestehen.»

Anders als Daniel meint, ist Jahwe also nicht schwach, wenn er zulässt, dass die Babylonier die Israeliten versklaven, sondern stark gegen sich selbst, indem er trotz seiner Erregung über diese Freveltat nichts gegen die Babylonier unternimmt. Und anders als Jeremia meint, zeigt sich darin, dass Jahwe sein Heiligtum von den Feinden zerstören lässt, nicht ein Mangel an furchterregenden Wundertaten; vielmehr ist dies selbst so furchterregend und ehrfurchtgebietend, dass es in Israel eine Gottesfurcht weckt, die so tief und stark ist, dass sie Israel hilft, inmitten feindseliger Völker zu überleben.

Während Jeremia und Daniel die religiöse Überlieferung korrigieren (bzw. zum Teil aufgeben), weil sie nicht mehr mit ihren Wirklichkeitserfahrungen übereinstimmt und deshalb nicht mehr wahr ist, «retten» die Männer der Großen Versammlung die Überlieferung, indem sie sie neu interpretieren: Gottes Macht kann sich nicht nur darin zeigen, dass er sich gegen Widerstände durchsetzt, sondern auch – und vielleicht sogar noch mehr – darin, dass er solche Widerstände geduldig erträgt. Und Gott zu «fürchten» – was in der Bibel häufig einfach ein Ausdruck für Frömmigkeit oder Religiosität ist – heißt eben wirklich auch, sich immer dessen bewusst zu sein, dass er nicht berechenbar ist und auch Dinge tun kann, die unerklärlich und unverständlich bleiben.

Dieses kreative Uminterpretieren der religiösen Überlieferung geht letztlich nicht weniger frei mit ihr um als die offene Kritik bei Jeremia und Daniel – es kaschiert aber diese Freiheit durch den Gestus der Treue zur Tradition – oder ist sich dieser Freiheit nicht einmal bewusst. Während Jeremia und Daniel sich in Anbetracht neuer Erfahrungen die Freiheit herausnehmen, die Wahrheit der Tradition kritisch zu überprüfen, steht diese Wahrheit für die Männer der Großen Versammlung von vornherein fest, was ihnen aber gleichzeitig die Freiheit gibt, angesichts neuer Erfahrungen die Tradition neu zu interpretieren und umzudeuten.

So oder so kann das Ziel nur sein, die Wahrheit (oder möglichst wenig Unwahrheiten) über Gott und die Welt zu sagen.