«Moses war gekommen und hatte gesagt: „Der große Gott,
mächtig und furchterregend“ (Deuteronomium 10,17).
Da kam Jeremia und sprach: „Fremde zerstören Seinen
Tempel. Und wo sind Seine furchterregenden Taten?“ Darum ließ er (in Jeremia
32,17f.) das Attribut „furchterregend“ aus.
Daniel kam und sprach: „Fremde versklaven Seine Söhne.
Und wo sind Seine mächtigen Taten?“ Darum ließ er (in Daniel 9,4ff.) das
Attribut „mächtig“ aus.
Aber wie konnten Jeremia und Daniel etwas von Moses
Vorgeschriebenes auslassen? Rabbi Eleasar sagte: „Weil sie wussten, dass der
Heilige, gelobt sei Er, auf Wahrheit besteht, konnten sie keine Unwahrheiten
über Ihn aussprechen.“»
Um diese Geschichte und ihre Pointe verstehen zu können, muss man sich die drei Bibelstellen vor Augen halten, auf die sie Bezug nimmt.
In Deuteronomium 10,17 sagt Mose von Jahwe, dem Gott der
Israeliten, er sei «der große Gott, mächtig und furchterregend» -
hebräisch: האל הגדל הגבר והנורא
hebräisch: האל הגדל הגבר והנורא
In Jeremia 32,18 wird Jahwe in einem Gebet «der große,
mächtige Gott» genannt –
hebräisch: האל הגדל הגבר
hebräisch: האל הגדל הגבר
In Daniel 9,4 schließlich wird Jahwe angesprochen als «der
große und furchterregende Gott» –
hebräisch: האל הגדל והנורא
hebräisch: האל הגדל והנורא
Hält man die drei Stellen nebeneinander, die – abgesehen davon,
dass sie jetzt alle in der Bibel stehen – eigentlich nichts miteinander zu tun
haben (vgl. auch Nehemia 1,5; 9,32), entsteht der Eindruck, dass die Propheten
Jeremia und Daniel, die nach Mose gewirkt haben, aus dessen Titulatur Gottes
jeweils ein Wort weggelassen haben.
Der Talmud unterstellt nun, dass dies absichtlich
geschehen ist, und fragt nach den Gründen, die Jeremia und Daniel dazu bewogen
haben.
Antwort: Jeremia hat erlebt, wie die Babylonier den
Tempel Jahwes in Jerusalem zerstört haben (vgl. Jeremia 52). Als «furchterregender»
Gott hätte Jahwe das verhindern können. Er hat es aber nicht getan. Deshalb
kann Jeremia ihn nicht mehr – wie Mose – «furchterregend» nennen.
Ebenso hat Daniel am eigenen Leib erlebt, wie die
Babylonier die unterlegenen Judäer versklavt haben (vgl. Daniel 1). Wäre Jahwe
wirklich «mächtig», hätte er sich dagegen zur Wehr setzen können. Weil er das
nicht getan hat, nennt Daniel ihn nicht mehr einen «mächtigen» Gott.
Nach Ansicht des Talmud haben Jeremia und Daniel damit «etwas
von Mose Vorgeschriebenes ausgelassen». Nun hat aber Mose den Israeliten
eingeschärft: «Ihr dürft nichts hinzufügen zu dem Wort, das ich euch gebiete,
und dürft auch nichts davon wegnehmen» (Deuteronomium 4,2; vgl. 13,1). Genau
genommen bezieht sich das eigentlich nur auf die Gebote und Verbote der Thora,
so dass man fragen kann, ob auch die Titulatur Gottes in Deuteronomium 10,17 so
verpflichtend ist, dass man daran nichts ändern darf. Der Talmud legt hier die
Verpflichtung zur Thoratreue recht eng aus.
Er tut das aber nur, um die Freiheit Jeremias und Daniels
gegenüber der Thora herauszustellen. Sie durften nicht nur, sie mussten sogar
von der Thora, ihrer maßgeblichen religiösen Überlieferung, abweichen, denn
diese Überlieferung stimmte nicht mehr mit ihrer Wirklichkeitserfahrung überein!
Gott legt mehr Wert auf die Wahrheit als auf die Tradition. Ihm ist es
wichtiger, dass das, was Menschen über ihn sagen, mit ihrer
Wirklichkeitserfahrung übereinstimmt, als dass sie einfach wiederholen, was die
religiöse Überlieferung über ihn sagt – und sei es auch eine so ehrwürdige und
maßgebliche Überlieferung wie die Thora Moses – und gehe es auch, wie in diesem
Fall, um Gottes Ruhm und Ehre.
Dass Gott die Wahrheit wichtiger ist als sein guter Ruf, denkt
auch Hiob, wenn er seine drei Freunden, die Gott gegen Hiobs Klagen und
Anklagen zu verteidigen versuchen, warnt: «Wollt ihr Falsches reden für Gott
und Lügen vorbringen für ihn? Wollt ihr für ihn Partei ergreifen oder den
Rechtsstreit führen für Gott? Geht es gut aus, wenn er euch erforscht, und
könnt ihr ihn täuschen, wie man Menschen täuscht? Hart wird er euch
zurechtweisen, wenn ihr versteckt Partei ergreift. Wird nicht seine Hoheit euch
ängstigen und sein Schrecken euch überfallen?» (Hiob 13,7ff. nach der Zürcher
Bibel).
In seiner Nacherzählung der Talmudpassage aus b. Joma 69b
hat Jakob Petuchowski einen Abschnitt ausgelassen, in dem die Freiheit Jeremias
und Daniels gegenüber der mosaischen Überlieferung zwar nicht kritisiert oder
bestritten wird – Rabbi Eleasar behält das letzte Wort –, der aber doch ein
stärkeres Festhalten an der Tradition verteidigt. In der Übersetzung von
Lazarus Goldschmidt (Der Babylonische Talmud, Dritter Band, Berlin 1930, S. 192) lautet dieser Abschnitt (mit zwei kleinen Korrekturen) so:
«Alsdann kamen jene (gemeint sind die «Männer der Großen
Versammlung», die Weisen der nach-prophetischen Zeit des Zweiten Tempels) und
sprachen: Im Gegenteil, dies ist seine Macht, dass er sich seiner Erregung
bemächtigt und langmütig ist gegen die Frevler; das sind seine Furchtbarkeiten,
denn wie[..] könnte sonst ohne die Furcht[…] des Heiligen, gepriesen sei er, eine Nation unter all den weltlichen
Völkern bestehen.»
Anders als Daniel meint, ist Jahwe also nicht schwach, wenn
er zulässt, dass die Babylonier die Israeliten versklaven, sondern stark gegen
sich selbst, indem er trotz seiner Erregung über diese Freveltat nichts gegen
die Babylonier unternimmt. Und anders als Jeremia meint, zeigt sich darin, dass
Jahwe sein Heiligtum von den Feinden zerstören lässt, nicht ein Mangel an
furchterregenden Wundertaten; vielmehr ist dies selbst so furchterregend und
ehrfurchtgebietend, dass es in Israel eine Gottesfurcht weckt, die so tief und
stark ist, dass sie Israel hilft, inmitten feindseliger Völker zu überleben.
Während Jeremia und Daniel die religiöse Überlieferung
korrigieren (bzw. zum Teil aufgeben), weil sie nicht mehr mit ihren
Wirklichkeitserfahrungen übereinstimmt und deshalb nicht mehr wahr ist, «retten»
die Männer der Großen Versammlung die Überlieferung, indem sie sie neu
interpretieren: Gottes Macht kann sich nicht nur darin zeigen, dass er sich
gegen Widerstände durchsetzt, sondern auch – und vielleicht sogar noch mehr – darin,
dass er solche Widerstände geduldig erträgt. Und Gott zu «fürchten» – was in
der Bibel häufig einfach ein Ausdruck für Frömmigkeit oder Religiosität ist –
heißt eben wirklich auch, sich immer dessen bewusst zu sein, dass er nicht
berechenbar ist und auch Dinge tun kann, die unerklärlich und unverständlich
bleiben.
Dieses kreative Uminterpretieren der religiösen
Überlieferung geht letztlich nicht weniger frei mit ihr um als die offene
Kritik bei Jeremia und Daniel – es kaschiert aber diese Freiheit durch den
Gestus der Treue zur Tradition – oder ist sich dieser Freiheit nicht einmal
bewusst. Während Jeremia und Daniel sich in Anbetracht neuer Erfahrungen die
Freiheit herausnehmen, die Wahrheit der Tradition kritisch zu überprüfen, steht
diese Wahrheit für die Männer der Großen Versammlung von vornherein fest, was ihnen
aber gleichzeitig die Freiheit gibt, angesichts neuer Erfahrungen die Tradition
neu zu interpretieren und umzudeuten.
So oder so kann das Ziel nur sein, die Wahrheit (oder möglichst wenig Unwahrheiten) über Gott und die Welt zu sagen.