16.2.12

Wer sich verliert, findet sich

So ungefähr soll nach dem Neuen Testament Jesus gelehrt haben – wobei man das griechische tēn psychēn autou statt mit sich auch mit sein Leben oder seine Seele übersetzen kann, und statt verlieren und gewinnen teilweise andere, ähnliche Wörter gebraucht werden:

Markus 8,35: Wer sein Leben retten will, wird es verlieren,
wer aber sein Leben verliert
um meinetwillen und um des Evangeliums willen, wird es retten.

Matthäus 16,25: Wer sein Leben retten will, wird es verlieren;
wer aber sein Leben verliert
um meinetwillen, wird es finden.

Lukas 9,24: Wer sein Leben retten will, wird es verlieren;
wer aber sein Leben verliert
um meinetwillen, wird es retten.

An diesen drei Stellen geht es – wie der Kontext zeigt –  darum, dass man bereit sein soll, als Märtyrer für Jesus und für das Evangelium zu sterben (sein Kreuz auf sich zu nehmen und Jesus nachzufolgen). Wenn man das tut, wird es einem beim jüngsten Gericht vom Menschensohn (vgl. Daniel 7), womit im jetzigen Textzusammenhang wohl Jesus gemeint ist, gelohnt werden.

An allen drei Stellen heißt es direkt nach den zitierten Aussagen über das Retten und Verlieren des Lebens:

Was hilft es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt,
dabei aber Schaden nimmt an seinem Leben
(bzw. an seiner Seele oder an sich selbst)?

Damit wird bekräftigt, dass kein möglicher irdischer Gewinn – nicht einmal der Gewinn der ganzen Welt – es wert wäre, dafür sich selbst, seine Seele oder sein Leben zu beschädigen – sprich: die Aussicht auf ein ewiges Leben nach dem Tod zu gefährden.

Bei Markus und Matthäus heißt es dann noch:

Was kann einer dann geben als Gegenwert für sein Leben?

Das erinnert an Psalm 49,8ff.:

Niemals kann einer den andern loskaufen,
keiner kann sich freikaufen bei Gott –
zu hoch ist der Preis für ihr Leben,
für immer muss er es lassen –,
damit er weiter lebt auf ewig
die Grube nicht sehen muss.

Psalm 49 sagt das zum Trost für einen Menschen, der sich vom Frevel seiner tückischen Feinde umgeben fühlt (Vers 6). Auch wenn ihre Rücksichtslosigkeit und Skrupellosigkeit sie reich macht: Vom Tod werden sie sich nicht freikaufen können, und ihren Reichtum werden sie nicht in die Unterwelt mitnehmen können. Dagegen kann ihr armes, aber anständiges Opfer darauf hoffen, von Gott aus der Unterwelt gerettet zu werden (Vers 18):

Gott wird mein Leben loskaufen,
aus der Gewalt des Totenreichs wird er mich nehmen.

Markus 8 und Matthäus 16 übertragen diese Gedanken aus Psalm 49 (vgl. auch Psalm 73) – einer der wenigen Stellen in der Hebräischen Bibel, an denen mit einem Leben nach dem Tod gerechnet wird – auf die Situation der Nachfolger Jesu. Sie sollen sich nicht an ihr irdisches Leben und an weltliche Güter klammern, sondern zusehen, dass sie sich für das Leben nach dem Tod qualifizieren.

Nun kann man allerdings fragen, ob die Texte damit nicht einer Lebenshaltung Vorschub leisten, der es am Ende doch wieder nur darum geht, sein Leben zu retten und einen möglichst großen Gewinn zu machen: Man gibt sein irdisches Leben hin und verzichtet auf weltlichen Gewinn – aber nur, um sich nach dem Tod das ewige Leben zu sichern. Nun sagen die Texte allerdings nicht: Wer sein irdisches Leben um der Hoffnung auf ein ewiges Leben willen verliert, der wird das ewige Leben finden. Was sie sagen, ist: Wer sein Leben verliert um meinetwillen (und um des Evangeliums willen), wird es retten (bzw. finden). Es geht also nicht um den Einsatz des irdischen Lebens für das ewige Leben nach dem Tod, sondern es geht um den Einsatz des Lebens für Jesus und für das Evangelium – und dieser Einsatz wäre nicht echt, wenn er mit einem berechnenden Schielen auf einen als Belohnung erhofften Gewinn erbracht würde. Trotzdem können die Texte leicht in dem Sinn missverstanden werden, dass sie zu einer frommen Lebenshingabe aufrufen, deren Ziel und Motiv ein ewiges Leben nach dem Tod ist.

Vor diesem Missverständnis scheint auch Johannes 12,25 nicht gefeit zu sein:

Wer sein Leben (psychē) liebt, verliert es;
und wer sein Leben (psych
ē)
in dieser Welt hasst, wird es bewahren ins ewige Leben (zoē).

Im Kontext geht es hier nicht nur um die Bereitschaft, sein Leben als Märtyrer für Jesus und das Evangelium hinzugeben, sondern um die Grundhaltung zum Leben und zu sich selbst in dieser Welt – wobei hassen im Deutschen vielleicht etwas schärfer klingt als es im Griechischen (mit der Sprache der Hebräischen Bibel im Hintergrund) gemeint war (nicht lieben).

Es geht hier auch nicht einfach darum, sein Leben, seine Seele oder sich selbst zu verlieren oder zu bewahren (retten) bzw. wieder zu gewinnen (finden), sondern darum, sein Leben (bzw. seine Seele bzw. sich selbst – griechisch: psychē) in dieser Welt hinter sich zu lassen und in eine neue Art von Leben, das ewige Leben (griechisch zoe aionios), zu überführen – wobei dieses ewige Leben nach dem Verständnis des Johannesevangeliums nicht erst mit dem Tod beginnt, sondern schon vorher (vgl. z.B. Johannes 5,24).

Wie radikal man sich die Verwandlung vorstellen muss, von der hier die Rede ist, macht der unmittelbar vorhergehende Vers (Johannes 12,24) deutlich:

Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein;
wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht.

Dem Weizenkorn ist in keiner Weise anzusehen, was aus ihm wird, nachdem es in die Erde gefallen und gestorben ist. Und die Pflanze, die aus dem Weizenkorn entsteht, hat keinerlei Ähnlichkeit mit einem Weizenkorn (allerdings bringt sie selber dann wieder neue Weizenkörner hervor – hier zeigen sich die Grenzen des Vergleichs). So soll man sich nach Johannes 12 den Übergang vom Leben in dieser Welt zum ewigen Leben vorstellen (vgl. dazu auch 1.Korinther 15,35ff.). Ewiges Leben ist nicht eine Verlängerung des irdischen Lebens über den Tod heraus (oder eine Wiederbelebung des Menschen nach dem Tod), sondern eine radikale Verwandlung des Lebens, die vor dem Tod beginnt und im Tod zur Vollendung kommt, weil seine Verbindung zu dieser Welt durch den Tod endgültig abgeschnitten wird.

Die kürzeste Version der Aussage über Verlust und Bewahrung des Lebens bzw. Selbstverlust und Selbstfindung steht in Lukas 17,33:

Wer sein Leben/seine Seele/sich selbst zu bewahren versucht, wird es/sie/sich verlieren,
und wer es/sie/sich verliert, wird es/sie/sich lebendig erhalten.

Im Kontext geht es um die Endzeit, für die Katastrophen vorhergesagt werden, die in ihrem Ausmaß der Sintflut oder der Zerstörung Sodoms durch einen Feuer- und Schwefelregen ähneln werden. In diesem Zusammenhang kann man Vers 33 als Ermahnung und Ermutigung verstehen, sich in solchen apokalyptischen Katastrophen nicht an sein irdisches Leben zu klammern, sondern in Erwartung des ewigen Lebens bereit zu sein, zu sterben.

Für sich allein gelesen, eröffnet der Vers aber auch eine Einsicht über das menschliche Leben, die vom Endzeitszenario, in das er jetzt eingebettet ist, unabhängig ist und das Leben vor dem Tod betrifft: Wer sich ausschließlich oder vorrangig darum kümmert, sich selbst zu erhalten, zu schützen und zu fördern, wird damit langfristig scheitern – denn früher oder später wird er sterben und damit sein Leben, seine Seele, sich selbst verlieren. Noch mehr: Er wird damit sich selbst und sein Leben verfehlen, weil er schon vor dem Tod ständig von der Angst vor dem Tod getrieben ist, sodass sein Leben schon vor dem Tod ganz und gar vom Tod bestimmt und erstickt wird. Wer dagegen die Sorge um sein Leben aufgibt, sich hingibt an die Herausforderungen des Lebens, sich verliert in der Liebe zu anderen Menschen, der bleibt lebendig – wandelbar, verletzbar, sterblich –, dessen Leben wird durch den Tod nicht widerlegt, sondern vollendet, der muss keine Angst haben vor dem Tod, sich nicht schon vor dem Tod vom Tod bestimmen lassen. Er kommt gar nicht mehr in die Versuchung, zu kalkulieren, ob er für den Einsatz seines irdischen Lebens das ewige Leben bekommt, denn er ist schon hinübergegangen aus dem Tod in das Leben (Johannes 5,24).