Die wissenschaftliche Erforschung der Bibel hat gezeigt, dass die biblischen Schriften von Menschen verfasst worden sind, die Kinder ihrer Zeit waren. Ihre Sprache, ihre Denkweisen und die Erfahrungen, auf die sie Bezug nehmen, sind geprägt von den Zeitumständen, in denen sie lebten. Und wie alle Menschen waren sie vor Irrtümern und Fehlern nicht gefeit. Was in der Bibel steht, ist deshalb weder alles (und in jeder Hinsicht) wahr, noch ist es zeitlos gültig. Diese Einsicht wird in der wissenschaftlichen Theologie heute nirgends ernsthaft bestritten.
Sie lässt es problematisch erscheinen, von der Bibel als dem "Wort Gottes" zu sprechen. (Die Bibel selbst erhebt ja auch gar nicht den Anspruch, von A bis Z "Wort Gottes" zu sein.) Das schließt aber keineswegs aus, dass Gott durch die Bibel oder einzelne Texte bzw. Aussagen in ihr Menschen anspricht (allerdings auch nicht, dass Gott Menschen durch Texte außerhalb der Bibel anspricht - etwa durch eine Predigt, den Rat eines Freundes oder einer Freundin oder einen Satz aus dem Koran oder der Bhagavad-Gita). Deshalb wird oft gesagt, die Bibel (bzw. ein Text aus der Bibel) sei zwar nicht Gottes Wort, sie (bzw. er) könne aber für einen Menschen zu Gottes Wort werden.
Das klingt auf den ersten Blick nicht schlecht, erweist sich aber bei genauerem Nachdenken als nicht ganz unproblematisch. Denn wenn wir einen Satz oder einen Text als "Wort Gottes" oder als "Wort des (Menschen) xy" bezeichnen, meinen wir damit gewöhnlich, dass Gott oder (der Mensch) xy dieses Wort gesprochen (oder geschrieben) hat, also sein Urheber ist. Wie soll man sich aber vorstellen, dass jemand zum Urheber eines bereits vorhandenen Textes wird - und dies womöglich nur für einen Teil seiner Leserschaft? Schließlich gehen wir davon aus, dass die Vergangenheit sich nicht mehr verändert - allenfalls kann sich unsere Kenntnis oder unser Verständnis der Vergangenheit verändern.
Auch wer keine Probleme damit hat, zu sagen, dass etwas für ihn "zu Gottes Wort geworden ist", würde es wahrscheinlich seltsam finden, wenn jemand ihm sagt, dass für ihn etwas "Gottes Wort gewesen ist", es nun aber nicht mehr sei. Beide Aussagen machen nur dann Sinn, wenn man sie als ungenaue Redeweise versteht, die eigentlich einen anderen Sachverhalt meint. Wenn ich sage: "Dies ist für mich zu Gottes Wort geworden", dann meine ich damit: "Dies ist immer schon Gottes Wort gewesen, aber ich habe das nicht sogleich gemerkt, sondern erst nach einiger Zeit".
Wenn das stimmt, heißt das aber, dass die Aussage: "Die Bibel (bzw. ein Text oder eine Aussage der Bibel) kann für einen Menschen zu Gottes Wort werden" nichts anderes besagt als: "Die Bibel ist (bzw. enthält) Gottes Wort - nur merken das nicht alle Menschen sofort". Diese Redeweise löst also nicht die Frage nach der theologischen Bedeutung der Bibel, die durch deren wissenschaftliche Erforschung aufgeworfen wird, sondern verschleiert nur das Problem.
Hier könnte nun jemand einwenden: Wenn ich etwas als "Wort Gottes" bezeichne, dann meine ich damit gar nicht, dass Gott das gesagt oder geschrieben hat. Was ich damit meine, ist, dass dieser Satz, dieser Text oder dieses Buch (die Bibel) für mich eine lebensorientierende Bedeutung hat - sei es, dass mir daran klar wird, wie ich zu leben habe (oder welche Möglichkeiten des Lebens mir geschenkt sind), oder dass dadurch immer wieder meine (vermeintlichen) Einsichten und Gewissheiten erschüttert und in Frage gestellt werden und ich zum Umdenken herausgefordert werde. Wenn ich etwas als "Wort Gottes" bezeichne, meine ich also damit, dass es göttliche Qualität hat, nicht, dass es von Gott stammt - so wie in der Bibel die Überschriften "die Psalmen Davids" oder "die Sprüche Salomos" womöglich weniger etwas über die Autoren der entsprechenden Texte sagen wollen als über deren Qualität. Und diese Qualität kann ein Satz, ein Text oder ein Buch für mich durchaus erst im Lauf der Zeit bekommen. Genau das meine ich, wenn ich sage, etwas sei für mich zu Gottes Wort geworden.
Auch hier kann man allerdings fragen, ob der betreffende Satz (bzw. Text oder das betreffende Buch) diese lebensorientierende Kraft nicht immer schon gehabt hat, auch wenn sie bei einem Menschen erst im Lauf der Zeit ihre Wirkung entfaltet hat. Wenn jemand sagt: Mit "dies ist Gottes Wort" meine ich "dies hat lebensorientierende Bedeutung", kann man also zurück fragen: Meinst du mit "Bedeutung" etwas, das in dem Text steckt und von der Leserschaft im Verlauf der Lektüre entdeckt werden kann? Oder meinst du damit etwas, das bei der Lektüre eines Textes entsteht? (Und meinst du im zweiten Fall damit etwas, das für alle Leserinnen und Leser ungefähr gleich ist, oder etwas, das für jede Leserin und jeden Leser ganz anders aussehen kann?)
Wenn man in diesem Sinne davon spricht, dass etwas "zu Gottes Wort wird", ist das also nicht einfach sinnlos, gibt aber Anlass zu weiteren Nachfragen und Präzisierungen (was ja kein Nachteil sein muss). Problematisch bleibt allerdings, dass die meisten Menschen heute "dies ist Gottes Wort" spontan im Sinne von "dies hat Gott zum Urheber" verstehen werden und nicht im Sinne von "dies hat lebensorientierende Bedeutung". Auch in der Geschichte des Christentums und der christlichen Theologie ist es gewöhnlich im zuerst genannten Sinn gebraucht worden. Wenn man sagt, dass etwas "zu Gottes Wort wird", sollte man also immer dazu sagen, was man mit "Gottes Wort" meint, damit keine unnötige Verwirrung entsteht.