Nach den Evangelien hat Jesus sein Wirken begonnen mit dem Aufruf an die Menschen, ihr Leben zu ändern, umzudenken, sich neu zu orientieren: "Kehrt um und glaube an das Evangelium" (die gute Nachricht, dass das Reich Gottes nahe gekommen ist)! (Markus 1,15) Kehrt um, μετανοεῖτε, ändert euren Sinn, euer Denken, die Ausrichtung eures Lebens!
Zwei Generationen später fordert der zweite Timotheusbrief (3,14) seinen Empfänger Timotheus und indirekt alle seine Leserinnen und Leser dazu auf, sich nicht von seinem Glauben abbringen zu lassen: μένε ἐν οἷς ἔμαθες καὶ ἐπιστώθης, "bleibe bei dem, was du gelernt und voller Vertrauen angenommen hast" (Zürcher Bibel) - man könnte das zweite Verb auch übersetzen: "und wovon du dich hast überzeugen lassen" oder "was dich überzeugt hat". Es geht nicht um den blinden Glauben an eine überlieferte Lehre, sondern um die Treue zu Überzeugungen, die man in einem Lern- und Erfahrungsprozess gewonnen hat.
Trotzdem ist der Kontrast deutlich: Hier die Aufforderung, seinen Überzeugungen treu zu bleiben, dort der Aufruf, seine Überzeugungen kritisch zu revidieren. Zeigt sich hier die Erstarrung der revolutionären und innovativen Botschaft Jesu zu einem konservativen und traditionalistischen System kirchlicher Lehre und Dogmatik? Diese Deutung ist sicher nicht ganz falsch, aber sie macht es sich wohl doch zu leicht. Auch Jesus hat ja nicht seine Jünger, nachdem sie seinem Ruf zur Umkehr gefolgt sind, gleich wieder dazu aufgerufen, ihre Ansichten zu ändern. Und der Verfasser des zweiten Timotheusbriefs ruft nicht einfach zum Festhalten an Traditionen auf, sondern dazu, mühsam errungene Überzeugungen, die vom Mainstream und Zeitgeist abweichen und sich gegen Anfeindungen behaupten müssen, nicht leichtfertig wieder aufzugeben - und er gibt Gründe dafür an, warum er diese Überzeugung für richtig hält.
Zu einer vernünftigen Lebensführung gehört es, eine sinnvolle Balance zu finden zwischen der Treue zu seinen Überzeugungen und der Bereitschaft, seine Überzeugungen kritisch zu prüfen und gegebenenfalls zu revidieren. Lebensorientierende Überzeugungen sollten nicht blind übernommen werden, sondern (auch) in eigenen Erfahrungen gründen. Man sollte nicht zum Glauben überredet, sondern davon überzeugt werden. Überzeugungen enthalten aber auch immer Elemente, die nicht durch Erfahrungen gedeckt sind, Elemente des Vertrauens, die in Erfahrungen gründen, aber über sie hinausweisen.
Ich weiß, warum ich meiner Frau vertrauen kann, auch wenn ich es nicht beweisen kann, dass sie vertrauenswürdig ist. Ich werde mich von diesem Vertrauen auch nicht sogleich abbringen lassen, wenn sie einmal etwas tut oder sagt, das meinen Erwartungen nicht entspricht. Weil solche mein Leben tragenden Überzeugungen wie das Vertrauen zu meiner Frau über das Erfahrbare und an der Erfahrung Verifizierbare hinausgehen, müssen (und sollten) sie nicht bei der ersten Gegen-Erfahrung sogleich über Bord geworfen werden. Ein gewisses Maß an Treue zu seinen Überzeugungen gehört zu einer vernünftigen Lebensführung, die nicht opportunistisch ihr Fähnchen in jeden Wind hängt.
Gefährlich wird es jedoch, wenn aus dieser Treue zu seinen Überzeugungen ein starrsinniges Festhalten daran wird, wenn man beginnt, seine Augen vor der Realität zu verschließen, die nicht mehr mit den eigenen Vorstellungen übereinstimmt. Irgendwann kann es auch nötig werden, seine Überzeugungen zu prüfen und gegebenenfalls zu ändern.
Wann es gilt, auf seinen Überzeugungen zu beharren, und wann es gilt, sie zu revidieren, dafür lassen sich kaum allgemeine Regeln angeben, sondern allenfalls biographische Beispiele anführen. Es gehört zur Kunst des Lebens, das herauszufinden - und sich nötigenfalls zu korrigieren, wenn man den richtigen Zeitpunkt verpasst hat. Glauben im christlichen Sinne zeigt sich nicht nur im Festhalten an einmal gewonnenen Überzeugungen, sondern auch in der Bereitschaft, solche Überzeugungen kritisch in Frage zu stellen und zu ändern. (Glauben heißt Vertrauen auf Gott, nicht auf seine Vorstellungen oder Überzeugungen von Gott.)