30.4.12

Offenbarung, Gerechtigkeit und Weisheit ...


Mose schreibt die Gebote Gottes auf
(Kees de Kort)

Im Buch Deuteronomium sagt Mose zu den Israeliten:

Seht, ich habe euch Satzungen und Rechte gelehrt, wie es mir der HERR, mein Gott, geboten hat, damit ihr danach handelt in dem Land, in das ihr zieht, um es in Besitz zu nehmen.
So haltet sie und handelt danach!
Denn darin zeigt sich den Völkern eure Weisheit und eure Einsicht. Wenn sie all diese Satzungen hören, werden sie sagen: Was für ein weises und einsichtiges Volk ist diese große Nation!
Denn welche große Nation hätte Götter, die ihr so nahe sind wie uns der HERR, unser Gott, so oft wir zu ihm rufen?
Und welche große Nation hätte Satzungen und Rechte, so gerecht wie diese ganze Weisung, die ich euch heute gebe?
 (Deuteronomium 4,5-8)

Die Gesetze und Gebote (Satzungen und Rechte) der Thora (= das hebräische Wort für Weisung oder Gesetz), die Mose die Israeliten am Berg Sinai (bzw. Choreb), während des Zugs durch die Wüste und dann vor der Überschreitung des Jordans beim Einzug in das verheißene Land Kanaan gelehrt hat, sind ihm nach Deuteronomium 5,31 (und anderen Stellen) von Gott mitgeteilt worden. Ihr Verfasser ist also (nach der biblischen Darstellung) nicht Mose (er ist nur ihr Übermittler), sondern Gott.

Das Interessante an dem zitierten Abschnitt ist, dass Mose nicht zu den Israeliten sagt: Die Gesetze und Gebote, die ich euch vorgelegt habe, sind mir von Gott offenbart worden. Also haltet sie und handelt danach. Denn Gott wird ja wohl am besten wissen, was für euch gut ist und wie ihr leben sollt - auch wenn ihr das mit eurem begrenzten Verstand nicht immer nachvollziehen könnt. Und selbst wenn uns einige der Forderungen Gottes überhaupt nicht einleuchten, sollten wir sie trotzdem befolgen. Denn Gott hat gesagt, dass er dafür sorgen wird, dass es denen gut geht, die seine Gebote befolgen, denen aber, die sie missachten schlecht (vgl. Deuteronomium 28). Also sollten wir schon aus reinem Eigennutz tun, was Gott uns sagt, damit er uns nicht bestraft.

Das wäre eine religiös verständliche Haltung: Wenn Gott allmächtig und allwissend und allgütig ist (oder wenn er jedenfalls mehr kann und besser Bescheid weiß als die Menschen und ihnen nicht übel will) dann sollten die Menschen, die um ihre Grenzen wissen, lieber tun, was Gott ihnen sagt, als was ihnen in den Sinn kommt. Auch unter ethischen Gesichtspunkten wäre daran nichts auszusetzen: Wenn moralisch richtig handeln heißt, dass man das tut, was man nach bestem Wissen und Gewissen für gut hält (und das unterlässt, was man nach bestem Wissen und Gewissen für schlecht hält), und wenn man davon überzeugt ist, dass Gott am besten weiß, was gut und schlecht ist, dann sollte man die Gebote befolgen, von denen man überzeugt ist, dass Gott sie gegeben hat.

Mose sagt aber nicht: Befolgt die Gebote, weil Gott sie offenbart hat! Sondern er sagt: Befolgt die Gebote, weil sie gerecht sind, und weil jeder Mensch, der diese Gebote kennen lernt (nicht nur die Israeliten, sondern auch die Angehörigen anderer Völker!), sagen wird, dass es weise und vernünftig ist, sie zu befolgen.

Auch das ist religiös verständlich – und theologisch vielleicht sogar noch durchdachter als die Aufforderung, von Gott offenbarte Gebote zu befolgen, von denen man nicht wirklich einsieht, dass es gut ist, sie zu befolgen, sondern dies nur tut, weil Gott das schon wissen wird. Denn schließlich hat Gott den Menschen ja die Fähigkeit gegeben, Erfahrungen zu machen, darüber nachzudenken und daraus Schlüsse zu ziehen, darunter auch Schlüsse darüber was gut und was schlecht bzw. böse ist (zumindest hat er es nicht verhindert, dass die Menschen sich diese Fähigkeit angeeignet haben: Genesis 3). So begrenzt diese Fähigkeit auch sein mag, wäre es doch eigenartig, wenn die Ergebnisse des menschlichen Nachdenkens über gut und schlecht/böse in eine völlig andere Richtung gehen würden als Gottes diesbezügliche Einsichten, wenn die Menschen nicht wenigstens grundsätzlich nachvollziehen könnten, dass Gottes Gebote vernünftig und gerecht sind.

Deshalb sagt Mose: Befolgt die Gebote, weil es für alle Menschen einsichtig ist, dass sie gerecht und vernünftig und weise sind.

Was ist nun aber, wenn die Völker (oder auch Israeliten!) die mosaischen Gesetze hören und nicht der Ansicht sind, dass sie allesamt vernünftig und gerecht sind?

Wahrscheinlich werden viele Menschen zustimmen, dass es richtig ist, nicht zu töten, nicht zu stehlen und niemanden falsch zu beschuldigen, wie es in den Zehn Geboten steht. Vielleicht schon etwas weniger werden es richtig finden, nicht die Ehe zu brechen, seine Eltern zu ehren und einen wöchentlichen Ruhetag einzuhalten (zumal wenn es – wie in den Zehn Geboten – ausdrücklich nur ein freier Tag pro Woche sein soll!). Warum es vernünftig und gerecht sein soll, Tätowierungen und Kleidung aus Mischgewebe zu verbieten (siehe Levitikus 19,19 und 28), wird sich wohl schon deutlich wenigeren erschließen. Und wenn das Verbot, Hasenbraten zu essen, damit begründet wird, dass Hasen Wiederkäuer sind, aber keine gespaltenen Klauen haben (Levitikus 11,5), werden sich vielleicht erste Zweifel daran regen, ob ein solches Gebot wirklich von Gott kommen kann, der als Schöpfer seine Geschöpfe eigentlich besser kennen sollte.

Man kann versuchen, auch solchen Ge- und Verboten noch irgendeinen vernünftigen Sinn abzugewinnen (wie es z.B. in der Antike der jüdische Philosoph Philo von Alexandria getan hat). Sobald man aber zu der Einsicht kommt, dass es keineswegs sicher ist, dass das mosaische Gesetz, die Thora, samt und sonders von Gott geoffenbart wurde und seinen Willen zum Ausdruck bringt (und es sind nicht nur die Hasen, die diese Einsicht nahelegen!), stellt sich die Frage, wie man denn dann herausfinden kann, welche der Gesetze allenfalls gut und richtig (und wichtig) sind und welche nicht, und was man vielleicht sonst noch tun und lassen sollte, auch über die Thora hinaus (trotz Deuteronomium 4,2!) – und da kann man sich kaum ein anderes Kriterium vorstellen als die von Mose in dem zitierten Abschnitt genannten: Was ist gerecht? Was ist vernünftig? Was ist weise?

Darüber muss man nachdenken und diskutieren – international und interkulturell, aber auch im Gespräch mit den religiösen und philosophischen Überlieferungen, denn es kann durchaus sein, dass wir heute globalen Verblendungen und Verirrungen aufsitzen, auf die uns erst die Beschäftigung mit antiken Texten aufmerksam werden lässt. Diese Suche nach dem Guten wird ein langwieriger und komplexer Prozess sein. Einstweilen werden sich verschiedene Kulturen an ihre vorläufigen Einsichten halten müssen. Und weil wir Menschen nicht allwissend sind, ist es nicht garantiert, dass das ganze Unternehmen irgendwann einmal zum Erfolg führt.

Trotzdem bleibt uns nichts anderes übrig, denn irgendwelchen religiösen Überlieferungen zu folgen, die nicht mit unseren moralischen Intuitionen und Reflexionen übereinstimmen oder ihnen sogar zuwiderlaufen, nur weil sie angeblich von einem Gott offenbart worden sind, wäre sicher nicht richtig. Das hat schon Mose so gesehen.

Wie Paulus schreibt (und zwar gerade im Blick auf prophetische „Offenbarungen“):

Prüft alles und das Gute behaltet. Meidet das Böse in jeder Gestalt.
(1. Thessalonicher 5,21f)