Mose schreibt die Gebote Gottes auf
(Kees de Kort)
Im Buch
Deuteronomium sagt Mose zu den Israeliten:
Seht, ich habe euch
Satzungen und Rechte gelehrt, wie es mir der HERR, mein Gott, geboten hat,
damit ihr danach handelt in dem Land, in das ihr zieht, um es in Besitz zu
nehmen.
So haltet sie und
handelt danach!
Denn darin zeigt sich
den Völkern eure Weisheit und eure Einsicht. Wenn sie all diese Satzungen
hören, werden sie sagen: Was für ein weises und einsichtiges Volk ist diese große
Nation!
Denn welche große
Nation hätte Götter, die ihr so nahe sind wie uns der HERR, unser Gott, so oft
wir zu ihm rufen?
Und welche große
Nation hätte Satzungen und Rechte, so gerecht wie diese ganze Weisung, die ich
euch heute gebe?
(Deuteronomium 4,5-8)
Das Interessante an dem zitierten Abschnitt ist, dass Mose
nicht zu den Israeliten sagt: Die Gesetze
und Gebote, die ich euch vorgelegt habe, sind mir von Gott offenbart worden.
Also haltet sie und handelt danach. Denn Gott wird ja wohl am besten wissen,
was für euch gut ist und wie ihr leben sollt - auch wenn ihr das mit eurem
begrenzten Verstand nicht immer nachvollziehen könnt. Und selbst wenn uns
einige der Forderungen Gottes überhaupt nicht einleuchten, sollten wir sie
trotzdem befolgen. Denn Gott hat gesagt, dass er dafür sorgen wird, dass es
denen gut geht, die seine Gebote befolgen, denen aber, die sie missachten
schlecht (vgl. Deuteronomium 28). Also sollten wir schon aus reinem Eigennutz
tun, was Gott uns sagt, damit er uns nicht bestraft.
Das wäre eine
religiös verständliche Haltung: Wenn Gott allmächtig und allwissend und
allgütig ist (oder wenn er jedenfalls mehr kann und besser Bescheid weiß als
die Menschen und ihnen nicht übel will) dann sollten die Menschen, die um ihre
Grenzen wissen, lieber tun, was Gott ihnen sagt, als was ihnen in den Sinn
kommt. Auch unter ethischen Gesichtspunkten wäre daran nichts auszusetzen: Wenn
moralisch richtig handeln heißt, dass man das tut, was man nach bestem Wissen
und Gewissen für gut hält (und das unterlässt, was man nach bestem Wissen und
Gewissen für schlecht hält), und wenn man davon überzeugt ist, dass Gott am
besten weiß, was gut und schlecht ist, dann sollte man die Gebote befolgen, von
denen man überzeugt ist, dass Gott sie gegeben hat.
Mose sagt aber nicht:
Befolgt die Gebote, weil Gott sie offenbart
hat! Sondern er sagt: Befolgt die
Gebote, weil sie gerecht sind, und weil jeder Mensch, der diese Gebote kennen
lernt (nicht nur die Israeliten, sondern auch die Angehörigen anderer Völker!),
sagen wird, dass es weise und vernünftig ist, sie zu befolgen.
Auch das ist
religiös verständlich – und theologisch vielleicht sogar noch durchdachter als die
Aufforderung, von Gott offenbarte Gebote zu befolgen, von denen man nicht
wirklich einsieht, dass es gut ist, sie zu befolgen, sondern dies nur tut, weil
Gott das schon wissen wird. Denn schließlich hat Gott den Menschen ja die
Fähigkeit gegeben, Erfahrungen zu machen, darüber nachzudenken und daraus
Schlüsse zu ziehen, darunter auch Schlüsse darüber was gut und was schlecht
bzw. böse ist (zumindest hat er es nicht verhindert, dass die Menschen sich
diese Fähigkeit angeeignet haben: Genesis 3). So begrenzt diese Fähigkeit auch
sein mag, wäre es doch eigenartig, wenn die Ergebnisse des menschlichen
Nachdenkens über gut und schlecht/böse in eine völlig andere Richtung gehen
würden als Gottes diesbezügliche Einsichten, wenn die Menschen nicht wenigstens
grundsätzlich nachvollziehen könnten, dass Gottes Gebote vernünftig und gerecht
sind.
Deshalb sagt Mose: Befolgt
die Gebote, weil es für alle Menschen einsichtig ist, dass sie gerecht und
vernünftig und weise sind.
Was ist nun aber, wenn die Völker (oder auch Israeliten!) die
mosaischen Gesetze hören und nicht der Ansicht sind, dass sie allesamt
vernünftig und gerecht sind?
Wahrscheinlich werden viele Menschen zustimmen, dass es
richtig ist, nicht zu töten, nicht zu stehlen und niemanden falsch zu
beschuldigen, wie es in den Zehn Geboten steht. Vielleicht schon etwas weniger
werden es richtig finden, nicht die Ehe zu brechen, seine Eltern zu ehren und
einen wöchentlichen Ruhetag einzuhalten (zumal wenn es – wie in den Zehn
Geboten – ausdrücklich nur ein freier Tag pro Woche sein soll!). Warum es
vernünftig und gerecht sein soll, Tätowierungen und Kleidung aus Mischgewebe zu
verbieten (siehe Levitikus 19,19 und 28), wird sich wohl schon deutlich
wenigeren erschließen. Und wenn das Verbot, Hasenbraten zu essen, damit
begründet wird, dass Hasen Wiederkäuer sind, aber keine gespaltenen Klauen
haben (Levitikus 11,5), werden sich vielleicht erste Zweifel daran regen, ob
ein solches Gebot wirklich von Gott kommen kann, der als Schöpfer seine
Geschöpfe eigentlich besser kennen sollte.
Man kann versuchen, auch solchen Ge- und Verboten noch
irgendeinen vernünftigen Sinn abzugewinnen (wie es z.B. in der Antike der
jüdische Philosoph Philo von Alexandria getan hat). Sobald man aber zu der
Einsicht kommt, dass es keineswegs sicher ist, dass das mosaische Gesetz, die
Thora, samt und sonders von Gott geoffenbart wurde und seinen Willen zum
Ausdruck bringt (und es sind nicht nur die Hasen, die diese Einsicht nahelegen!),
stellt sich die Frage, wie man denn dann herausfinden kann, welche der Gesetze
allenfalls gut und richtig (und wichtig) sind und welche nicht, und was man
vielleicht sonst noch tun und lassen sollte, auch über die Thora hinaus (trotz
Deuteronomium 4,2!) – und da kann man sich kaum ein anderes Kriterium
vorstellen als die von Mose in dem zitierten Abschnitt genannten: Was ist gerecht? Was ist vernünftig? Was ist
weise?
Darüber muss man nachdenken und diskutieren – international und
interkulturell, aber auch im Gespräch mit den religiösen und philosophischen
Überlieferungen, denn es kann durchaus sein, dass wir heute globalen Verblendungen
und Verirrungen aufsitzen, auf die uns erst die Beschäftigung mit antiken
Texten aufmerksam werden lässt. Diese Suche nach dem Guten wird ein
langwieriger und komplexer Prozess sein. Einstweilen werden sich verschiedene
Kulturen an ihre vorläufigen Einsichten halten müssen. Und weil wir Menschen
nicht allwissend sind, ist es nicht garantiert, dass das ganze Unternehmen
irgendwann einmal zum Erfolg führt.
Trotzdem bleibt uns nichts anderes übrig, denn irgendwelchen
religiösen Überlieferungen zu folgen, die nicht mit unseren moralischen
Intuitionen und Reflexionen übereinstimmen oder ihnen sogar zuwiderlaufen, nur
weil sie angeblich von einem Gott offenbart worden sind, wäre sicher nicht
richtig. Das hat schon Mose so gesehen.
Wie Paulus schreibt (und zwar gerade im Blick auf
prophetische „Offenbarungen“):
Prüft alles und das
Gute behaltet. Meidet das Böse in jeder Gestalt.
(1. Thessalonicher 5,21f)