1.4.12
Die Leidensgeschichte Jesu - fromme Aneignung und historische Kritik
Hans Hirtz - Die Gefangennahme Christi (um 1450)
Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu, seine Leidens- bzw. Passionsgeschichte, wird in allen vier Evangelien des Neuen Testaments (und außerhalb des Neuen Testaments im Petrusevangelium) überliefert - mit kleineren und größeren Unterschieden in den Einzelheiten. Sie gehört zu den zentralen Traditionen des Christentums.
Die Passionsgeschichte spricht uns unmittelbar an und ruft starke Gefühle wach. (Ist das so, weil wir sie von klein auf kennen und sie Teil unseres kulturellen Gedächtnisses ist? Oder wirkt sie ähnlich auf Menschen aus ganz anderen Kulturen?) Wie da ein Mensch für seine Überzeugungen gequält und ermordet wird - und dies gar nicht heroisch, sondern voll Angst und doch irgendwie souverän mit sich geschehen lässt - vielleicht auch, um seinen Anhängern die Flucht zu ermöglichen. In seinem Umfeld Menschen, die ihn verteidigen, es aber dann doch mit der Angst zu tun bekommen und aus sicherer Entfernung zuschauen, was mit ihm geschieht. Menschen, die von seinem Leiden profitieren - weil sie für den Verrat kassieren oder weil sie sich damit beim Volk beliebt machen können. Menschen, die von ihren religiösen Überzeugungen dazu getrieben werden, einen Menschen umzubringen - im Wahn, auf diese Weise Gott zu dienen. Menschen, die bereit sind, aus politischen Gründen einen Unschuldigen über die Klinge springen zu lassen. Menschen, die einfach tun, was ihnen befohlen wird - und sei es, einen Menschen zu foltern. Menschen, die sich daran weiden, einen Schwächeren quälen zu können. Menschen, die von dem, dessen Hinrichtung sie befehligt haben, zutiefst beeindruckt sind: Ecce homo! - Seht, welch ein Mensch! - Schaut, wozu Menschen fähig sind!
Die "Wahrheit" der Passionsgeschichte beruht nicht darauf, dass "es wirklich so gewesen ist". Die "Wahrheit" dieser Geschichte liegt darin, dass sie uns die Augen öffnet für uns selbst, für die Menschen, für die Welt, in der wir leben - und dass sie uns dazu drängt, unser Leben zu überdenken und zu ändern. "Wahr" ist die Passionsgeschichte, wenn und insofern sie diese Wirkung entfaltet - und wenn und insofern wir uns in diesem Spiegel wiedererkennen können, auch wenn es wehtut: Ja, es stimmt. So sind wir. So sind die Menschen. So ist die Welt.
Diese "Wahrheit" der Passionsgeschichte wird durch die historisch-kritische Prüfung, "ob es wirklich so gewesen ist", nicht einfach hinfällig. Historisch kann man nach dem heutigen Stand der Erkenntnis sagen, "daß Jesus um das Jahr 30 in Jerusalem auf Anordnung des römischen Präfekten Pontius Pilatus gekreuzigt wurde, wohl an einem Freitag in der Nähe eines Passafestes. Alles übrige ist strittig, insbesondere der Grund der Verhaftung und des Todesurteils (Welche Rolle spielte die 'Tempelreinigung'? Ist der für die Passionsgeschichte typische Kreuzestitel 'König der Juden' historisch? Hat Jesus sich zum königlichen Messias erklärt?) sowie der Grad der Beteiligung jüdischer Autoritäten (Gab es einen 'Prozeß' vor dem Synhedrion (Sanhedrin)? Wie glaubwürdig ist die für die Dramaturgie der Passionsgeschichte eminent wichtige Barabbas-Szene?)" - so der Bibelwissenschaftler Wolfgang Reinbold in der 4. Auflage des Lexikons "Religion in Geschichte und Gegenwart" (Band 6, 2003, Sp. 975).
Was jedoch historisch einigermaßen "sicher" ist (soweit überhaupt etwas "historisch gesichert" sein kann), ist, dass die "eindeutige Beantwortung der Schuldfrage" in den biblischen Passionsgeschichten den Tatsachen nicht entspricht: "Alle Passionsgeschichten sind sich darin einig, daß Pilatus Jesus für unschuldig gehalten hat und daß es die Hohepriester waren, die seinen Tod gewollt und durchgesetzt haben. Juden tragen die Schuld am Tod Jesu. Ausdrücklich nimmt 'das ganze Volk' nach Matthäus 27,25 die Blutschuld auf sich und seine Kinder. Noch weiter geht die Apostelgeschichte, die die Juden zum ersten Mal mit dem (historisch grotesken) Vorwurf konfrontiert, sie hätten Jesus gekreuzigt (2,36; 4,10 und öfter). Im 2. Jahrhundert spricht Melito von Sardes vom 'Gottesmord' (Passahomilie 93-96 [SC 123,114-117]). Im weiteren Verlauf spielte das Bild von den Juden als Mördern Jesu eine fundamentale Rolle für die Selbstdefinition des Christentums in Abgrenzung vom Judentum" (Wolfgang Reinbold, ebenda, Sp. 976).
Die historisch-kritische Analyse biblischer Texte entscheidet nicht über deren "Wahrheit" als literarische Texte für heutige Leserinnen und Leser. Sie ist aber unbedingt notwendig, um heutige Leserinnen und Leser davor zu warnen, abwegige "Wahrheiten" aus den Texten herauszulesen, die schreckliche Folgen haben können, wie uns die Geschichte lehrt.