29.5.12

"Lobe den Herren, der alles so herrlich regieret!"?


Gott sei uns gnädig und segne uns,
er lasse uns sein Antlitz leuchten,
dass man auf Erden erkenne seinen Weg,
unter allen Heiden sein Heil.
Es danken dir, Gott, die Völker,
es danken dir alle Völker.
Die Völker freuen sich und jauchzen,
dass du die Menschen recht richtest
und regierst die Völker auf Erden.
Es danken dir, Gott, die Völker,
es danken dir alle Völker.
Das Land gibt sein Gewächs;
es segne uns Gott, unser Gott!
Es segne uns Gott,
und alle Welt fürchte ihn.
(Psalm 67 nach der Lutherbibel 1984)


Das Jüngste Gericht (Michelangelo)

Kann man heute noch so beten? Konnte man jemals so beten? Als gäbe es kein Unrecht in der Welt und keine Hungersnöte! Nicht erst nach Auschwitz ist es schwierig geworden, an einen Gott zu glauben, „der alles so herrlich regieret“, wie es in einem Kirchenlied heißt.

Nicht erst heute stellt sich die Frage, ob und wie das möglich ist. Schon in der Bibel selbst wird sie aufgeworfen. Hiob z.B. wird nicht müde, darauf hinzuweisen, dass es in der Welt nicht gerecht zugeht, weil Gott sich nicht darum kümmert (bes. Hiob 9; 21 und 24). Hiobs Freunde halten dagegen: Gott sorgt immer und überall dafür, dass es den Menschen so geht, wie sie es verdient haben, dass Anständigkeit belohnt und Rücksichtslosigkeit und Egoismus bestraft werden - man muss nur manchmal ein wenig zuwarten. Aber von dieser Theologie distanziert sich sogar Gott selbst am Ende des Buches (Hiob 42,7ff). Gott legt keinen Wert auf Lobhudeleien, die nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen.

Ist nicht auch Psalm 67 so eine Lobhudelei? Man könnte dagegen einwenden, dass im Buch der Psalmen die verschiedensten Gebete für die verschiedensten Gelegenheiten zusammengestellt sind, und nicht behauptet wird, dass alle Gebete überall und jederzeit gleich passend wären. Da klagt einer darüber, dass seine Feinde ihn zu unrecht verfolgen, ein anderer ist krank und ein dritter leidet unter Schuldgefühlen, dazwischen vielleicht ein Dankgebet für eine gute Ernte oder einen militärischen Erfolg. Das ist bei einem Leser oder einer Leserin (und auch bei einer Gruppe oder Gemeinschaft) niemals alles gleichzeitig der Fall. Es kann einen daran erinnern, dass jetzt, wo es mir gut geht, andere Menschen leiden, oder jetzt, wo es mir schlecht geht, andere Menschen sich darüber freuen, dass ihnen geholfen wurde - und das kann einem wiederum in schlechten Zeiten Hoffnung geben, dass es einmal wieder besser wird, oder einen dazu anregen, für gute Zeiten dankbar zu sein und sie zu genießen, weil sie vielleicht schon bald vorbei sein werden.

In diesem Sinne könnte man Psalm 67 lesen als einen Ausdruck der Hoffnung, dass einmal eine Zeit kommen wird, in der die Menschen und Völker Gott dafür danken können, dass er in der Welt für Gerechtigkeit gesorgt hat. Dazu passt, dass der Psalm mit dem Wunsch beginnt, dass alle Menschen und Völker den Weg (die Handlungsweise) und das Heil Gottes (den positiven Zustand, den er herbeiführt) erfahren und erkennen mögen.

Aber: macht es Sinn, darauf zu hoffen? Warum sorgt Gott nicht jetzt sofort für eine gerechte Welt, wenn er das kann und wenn er das jedenfalls später zu tun beabsichtigt? Die klassische christliche Antwort auf diese Frage lautet: Weil Gott seinen Geschöpfen (Menschen und Tieren), die nach Genesis 1-11 für das Unrecht in der Welt verantwortlich sind, die Chance geben will, sich zu bessern, damit sie an der neuen Welt Anteil bekommen können, die Gott schaffen wird, und in der die „paradiesischen“ Zustände der ursprünglichen Schöpfung wieder hergestellt sein werden (vgl. Jesaja 65,17ff; Offenbarung 21). Das meint Paulus, wenn er sagt, dass darin, dass Gott nicht jedes Unrecht sofort bestraft, seine Güte zum Ausdruck kommt, die uns zur Umkehr oder Buße anspornen will (Römer 2,4).

Dagegen kann man einwenden, dass Gott, wenn er gegen das Unrecht in der Welt nicht vorgeht, nicht nur den Übeltätern Gelegenheit zur Umkehr gibt, sondern auch neue Übeltaten geschehen lässt, unter denen Menschen leiden oder denen sogar Menschen zum Opfer fallen. Das gilt um so mehr, wenn Gott mit der Erschaffung der neuen Welt lange zuwartet, weil dann immer wieder neues Unrecht geschieht und immer wieder neue Opfer und Übeltäter geboren werden.

In der Bibel gibt es aber auch noch ander Überlegungen dazu, warum Gott so viel Unrecht in der Welt geschehen lässt. So wird z.B. gegen Ende des Buches Hiob in den Reden Gottes (Hiob 38ff) zumindest angedeutet, dass Gott als Schöpfer der ganzen Welt möglicherweise über Recht und Unrecht steht: Als Schöpfer von allem hat er die Möglichkeit von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit geschaffen. Dass er das getan hat ist weder gerecht noch ungerecht. Gerecht oder ungerecht können Geschöpfe oder Phänomene in der Schöpfung sein, aber nicht die Schöpfung als ganze - also auch nicht Gott als Schöpfer. In der Konsequenz dieses Denkens liegt es, dass die Bekämpfung von Unrecht und die Herstellung gerechter Verhältnisse eine Aufgabe der Menschen ist - und zwar eine Aufgabe, mit der sie letztlich alleine, ohne Gottes Hilfe zurecht kommen müssen.

Nochmals etwa anders sieht es der „Prediger Salomo“, Kohelet. Er spricht zwar mehrfach davon, dass Gott über die Menschen „richtet“, aber dieses „Gericht“ Gottes scheint in Kohelets Sicht v.a. darin zu bestehen, dass Gott die Menschen sterben lässt und dass er sie im Leben immer wieder mit Zufällen konfrontiert, die ihre Planungen und Erwartungen durchkreuzen. Gott richtet die Menschen nicht in dem Sinne, dass er es den Guten gut gehen lässt und den Schlechten schlecht (so wie die Freunde Hiobs es meinen und Hiob es in seinen Anklagen gegen Gott fordert), sondern in dem Sinne, dass sie nicht wissen, was die Zukunft ihnen bringen wird. Die Welt ist nicht gerecht - aber genau das ist paradoxerweise gerecht, weil nämlich die Menschen letztlich allesamt Sünder sind (Kohelet 7,20) und nichts besseres verdient haben. Wenn Gott den Menschen trotzdem immer wieder einmal die Gelegenheit gibt, sich zu freuen und das Leben zu geniessen, dann nicht, weil sie das verdient hätten, sondern als unverdientes Geschenk (Kohelet 5,18).

Dass Gott eine neue Welt schaffen wird, ist nach Hiob und nach Kohelet nicht zu erwarten. Gott hat die Welt gut gemacht, die Menschen haben sie verdorben, damit muss und kann man sich abfinden. Nicht abfinden muss und soll man sich dagegen nach Hiob und Kohelet mit dem Unrecht in der Welt. Man kann und soll selbst kein Unrecht tun und sich nach Möglichkeit für Gerechtigkeit einsetzen. Man hat dabei Gott sicher nicht gegen sich, nach Hiob ist das sogar ausdrücklich das, was Gott von den Menschen erwartet. Das Buch Hiob geht noch einen Schritt weiter: Man kann als Mensch - vielleicht nur in Einzelfällen, aber doch immerhin manchmal - Gott dazu bewegen, gegen Unrecht und Unglück in der Welt einzuschreiten. Hiob kommt zwar mit seinen Anklagen und Forderungen an Gott nicht durch: Auch ein noch so vorbildlich gerechter und rechtschaffener Mensch hat keinen einklagbaren Anspruch auf ein glückliches Leben. Aber mit seinen Klagen und Anklagen bringt Hiob Gott doch dazu, sich ihm zuzuwenden, ihn mit seinen Freunden zu versöhnen und ihn wieder gesund und reich zu machen.

Gott ist nicht gerecht - aber es besteht die Chance, ihn für den Kampf gegen das Unrecht und für Gerechtigkeit zu gewinnen. Das ist nicht das Gottesbild von Psalm 67 - aber vielleicht ein Gottesbild, das besser zu unseren heutigen Erfahrungen passt, und das uns vor dem vielleicht doch etwas hybriden Gedanken bewahren kann, wir müssten und könnten aus eigener Kraft eine bessere und gerechtere Welt schaffen.

Psalm 67 erinnert uns daran, dass wir auf Gottes Güte und seinen Segen angewiesen sind - schon allein dafür, dass „das Land sein Gewächs gibt“ und wir zu essen haben. Bei allem, was Menschen für den Ackerbau beitragen können und müssen, ist der Erfolg dieser Arbeit doch letztlich niemals garantiert - um sich davon zu überzeugen genügt ein Blick in die Dürregebiete der Sahelzone. Diese Unverfügbarkeit des Erfolgs gilt für unseren Einsatz für Recht und Gerechtigkeit nicht weniger als für unseren Einsatz für die Produktion von Nahrungsmitteln. Psalm 67 bringt das so zum Ausdruck, dass beides, das Essen und die Gerechtigkeit, eine Gabe Gottes ist. Von dem notwendigen menschlichen Beitrag dazu ist in diesem Psalm nicht die Rede. Wenn wir ihn beim Lesen sachgemäss dazu denken, ist uns der Text vielleicht nicht mehr so fern und fremd, sondern kann die Hoffnung auf eine bessere Welt zum Ausdruck bringen, ohne die der Einsatz von Menschen für Recht und Gerechtigkeit sinnlos würde (es sei denn, man wollte ihn damit begründen, dass die Welt nicht - oder wenn schon, dann möglichst langsam - schlechter werden soll). Zumindest dies macht Psalm 67 deutlich: Wer darauf hofft, dass Gott ihn/sie segnet, dem/der/denen darf das Unrecht in der Welt nicht gleichgültig sein.