8.5.12

Ein Gott, über dem nichts Größeres gedacht werden kann




Anselm von Canterbury (ca. 1033-1109) hat in seinem lateinisch geschriebenen Werk "Proslogion" (Anrede) einen sogenannten "ontologischen Gottesbeweis" vorgelegt. Anselm meint, dass man gar nicht denken kann, dass es Gott nicht gibt, ohne in einen Selbstwiderspruch zu geraten - zumindest wenn es um den christlichen Gott geht (aber dasselbe würde wohl auch für den jüdischen oder den muslimischen Gott gelten). Christen glauben nämlich - so Anselm - dass Gott etwas ist, über dem nichts Größeres gedacht werden kann ("credimus te esse aliquid quo nihil maius cogitari possit"). Ein Gott, der existiert, ist nun aber nach Anselms Ansicht auf jeden Fall größer als ein Gott, der nicht existiert. Demnach wäre ein nicht-existierender Gott gar nicht wirklich Gott, weil man ja über ihm etwas Größeres denken kann, nämlich einen existierenden Gott. Also kann man, wenn man nicht in einen Selbstwiderspruch geraten will, Gott nur als existierend denken. Also muss Gott existieren.


Der Fehler liegt natürlich in der letzten Schlussfolgerung. Selbst wenn man Anselm so weit folgt, dass man Gott nur als existierend denken kann, folgt daraus noch lange nicht, dass Gott existiert. Um herauszufinden, ob ein Gedanke der Wirklichkeit entspricht oder nicht, muss man nicht den Gedanken untersuchen, sondern die Wirklichkeit.

Interessant ist aber nicht nur die - wenig überzeugende - Schlussfolgerung Anselms, sondern schon seine als mehr oder weniger selbstverständlich eingeführte Definition Gottes als demjenigen, über dem nichts Größeres gedacht werden kann (vgl. den islamischen Satz "Allahu akbar", "Gott ist sehr groß/größer/am größten"). Man kann den Gedanken "der höchste Berg der Erde" entwickeln. Aber kann man auch an einen Berg denken, der so hoch ist, dass kein höherer Berg mehr denkbar ist? Zu jeder natürlichen Zahl kann man sich definitionsgemäß immer noch eine größere Zahl denken. Es gibt nicht nur keine Zahl, zu der keine größere Zahl denkbar ist - eine solche Zahl ist auch gar nicht denkbar. (Wenn man mit Georg Cantor die Anzahl der natürlichen Zahlen als Zahl mit dem Wert "unendlich" einführt, wird man feststellen, dass es unterschiedlich große Unendlichkeiten gibt - z.B. gibt es unendlich viele natürliche und unendlich viele reele Zahlen, aber eindeutig mehr reelle als natürliche Zahlen - so dass am Ende zu jeder Unendlichkeit eine größere Unendlichkeit denkbar ist.)

Vielleicht kann man ja auch bei jedem Gottesgedanken noch einen Punkt finden, in dem man Gott noch größer denken könnte? Oder ist man mit dem Gedanken eines all-mächtigen, all-wissenden und all-gütigen Gottes so weit gekommen, dass man nichts Größeres mehr denken kann? 

Was macht einen Gott "groß" oder "größer"? 

Ist ein Gott, der immer und überall seinen Willen durchsetzt, größer als ein Gott, der sich zurücknimmt, um seinen Geschöpfen Freiräume zu gewähren? 

Ist ein Gott, der eine Welt schafft, die in jedem Augenblick und in jedem Detail von ihm bestimmt wird und ohne ihn ins Nichts zurückfallen würde, größer als ein Gott, der seine Herrschaft über die Welt delegiert und auch einmal Pause machen kann, ohne dass die Welt zusammenbricht? 

Ist ein Gott, der leidensunfähig ist, größer als ein Gott, der Mensch wird und sich kreuzigen lässt? Ist ein Gott, der sich kreuzigen lässt und dann aufersteht, größer als ein Gott, der sich kreuzigen lässt und tot bleibt? 

Ist ein Gott, den es gibt, größer als ein Gott, den es nicht gibt?