Das Wehen der Luft, das Rieseln des Wassers, das Wachsen der
Getreide, das Wogen des Meeres, das Grünen der Erde, das Glänzen des
Himmels, das Schimmern der Gestirne halte ich für groß: das prächtig
einherziehende Gewitter, den Blitz, welcher Häuser spaltet, den Sturm,
der die Brandung treibt, den feuerspeienden Berg, das Erdbeben, welches
Länder verschüttet, halte ich nicht für größer als obige Erscheinungen,
ja ich halte sie für kleiner, weil sie nur Wirkungen viel höherer
Gesetze sind. Sie kommen auf einzelnen Stellen vor und sind die
Ergebnisse einseitiger Ursachen. Die Kraft, welche die Milch im Töpfchen
der armen Frau emporschwellen und übergehen macht, ist es auch, die die
Lava in dem feuerspeienden Berge emportreibt und auf den Flächen der
Berge hinabgleiten läßt. Nur augenfälliger sind diese Erscheinungen und
reißen den Blick des Unkundigen und Unaufmerksamen mehr an sich, während
der Geisteszug des Forschers vorzüglich auf das Ganze und Allgemeine
geht und nur in ihm allein Großartigkeit zu erkennen vermag, weil es
allein das Welterhaltende ist. Die Einzelheiten gehen vorüber, und ihre
Wirkungen sind nach kurzem kaum noch erkennbar.
Wir wollen das Gesagte
durch ein Beispiel erläutern. Wenn ein Mann durch Jahre hindurch die
Magnetnadel, deren eine Spitze immer nach Norden weist, tagtäglich zu
festgesetzten Stunden beobachtete und sich die Veränderungen, wie die
Nadel bald mehr bald weniger klar nach Norden zeigt, in einem Buche
aufschriebe, so würde gewiß ein Unkundiger dieses Beginnen für ein
kleines und für Spielerei ansehen: aber wie ehrfurchterregend wird
dieses Kleine und wie begeisterungerweckend diese Spielerei, wenn wir
nun erfahren, daß diese Beobachtungen wirklich auf dem ganzen Erdboden
angestellt werden, und daß aus den daraus zusammengestellten Tafeln
ersichtlich wird, daß manche kleine Veränderungen an der Magnetnadel oft
auf allen Punkten der Erde gleichzeitig und in gleichem Maße vor sich
gehen, daß also ein magnetisches Gewitter über die ganze Erde geht, daß
die ganze Erdoberfläche gleichzeitig gleichsam ein magnetisches Schauern
empfindet. Wenn wir, so wie wir für das Licht die Augen haben, auch für
die Elektrizität und den aus ihr kommenden Magnetismus ein
Sinneswerkzeug hätten, welche große Welt, welche Fülle von unermeßlichen
Erscheinungen würde uns da aufgetan sein. Wenn wir aber auch dieses
leibliche Auge nicht haben, so haben wir dafür das geistige der
Wissenschaft, und diese lehrt uns, daß die elektrische und magnetische
Kraft auf einem ungeheuren Schauplatze wirke, daß sie auf der ganzen
Erde und durch den ganzen Himmel verbreitet sei, daß sie alles umfließe
und sanft und unablässig verändernd, bildend und lebenerzeugend sich
darstelle. Der Blitz ist nur ein ganz kleines Merkmal dieser Kraft, sie
selber aber ist ein Großes in der Natur.
Weil aber die Wissenschaft nur
Körnchen erringt, nur Beobachtung nach Beobachtung macht, nur aus
Einzelnem das Allgemeine zusammenträgt, und weil endlich die Menge der
Erscheinungen und das Feld des Gegebenen unendlich groß ist, Gott also
die Freude und die Glückseligkeit des Forschens unversieglich gemacht
hat, wir auch in unseren Werkstätten immer nur das Einzelne darstellen
können, nie das Allgemeine, denn dies wäre die Schöpfung: so ist auch
die Geschichte des in der Natur Großen in einer immerwährenden
Umwandlung der Ansichten über dieses Große bestanden. Da die Menschen in
der Kindheit waren, ihr geistiges Auge von der Wissenschaft noch nicht
berührt war, wurden sie von dem Nahestehenden und Auffälligen ergriffen
und zu Furcht und Bewunderung hingerissen: aber als ihr Sinn geöffnet
wurde, da der Blick sich auf den Zusammenhang zu richten begann, so
sanken die einzelnen Erscheinungen immer tiefer, und es erhob sich das
Gesetz immer höher, die Wunderbarkeiten hörten auf, das Wunder nahm zu.
So wie es in der äußeren Natur ist, so ist es auch in der
inneren, in der des menschlichen Geschlechtes. Ein ganzes Leben voll
Gerechtigkeit, Einfachheit, Bezwingung seiner selbst,
Verstandesmäßigkeit, Wirksamkeit in seinem Kreis, Bewunderung des
Schönen, verbunden mit einem heiteren gelassenen Sterben, halte ich für
groß: mächtige Bewegungen des Gemütes, furchtbar einherrollenden Zorn,
die Begier nach Rache, den entzündeten Geist, der nach Tätigkeit strebt,
umreißt, ändert, zerstört und in der Erregung oft das eigene Leben
hinwirft, halte ich nicht für größer, sondern für kleiner, da diese
Dinge so gut nur Hervorbringungen einzelner und einseitiger Kräfte sind,
wie Stürme, feuerspeiende Berge, Erdbeben. Wir wollen das sanfte Gesetz
zu erblicken suchen, wodurch das menschliche Geschlecht geleitet wird.
Es gibt Kräfte, die nach dem Bestehen des Einzelnen zielen. Sie nehmen
alles und verwenden es, was zum Bestehen und zum Entwickeln desselben
notwendig ist. Sie sichern den Bestand des Einen und dadurch den aller.
Wenn aber jemand jedes Ding unbedingt an sich reißt, was sein Wesen
braucht, wenn er die Bedingungen des Daseins eines anderen zerstört, so
ergrimmt etwas Höheres in uns, wir helfen dem Schwachen und
Unterdrückten, wir stellen den Stand wieder her, daß er ein Mensch neben
dem andern bestehe und seine menschliche Bahn gehen könne, und wenn wir
das getan haben, so fühlen wir uns befriedigt, wir fühlen uns noch viel
höher und inniger, als wir uns als Einzelne fühlen, wir fühlen uns als
ganze Menschheit. Es gibt daher Kräfte, die nach dem Bestehen der
gesamten Menschheit hinwirken, die durch die Einzelkräfte nicht
beschränkt werden dürfen, ja im Gegenteile beschränkend auf sie selber
einwirken. Es ist das Gesetz dieser Kräfte, das Gesetz der
Gerechtigkeit, das Gesetz der Sitte, das Gesetz, das will, daß jeder
geachtet, geehrt, ungefährdet neben dem anderen bestehe, daß er seine
höhere menschliche Laufbahn gehen könne, sich Liebe und Bewunderung
seiner Mitmenschen erwerbe, daß er als Kleinod gehütet werde, wie jeder
Mensch ein Kleinod für alle andern Menschen ist. Dieses Gesetz liegt
überall, wo Menschen neben Menschen wohnen, und es zeigt sich, wenn
Menschen gegen Menschen wirken. Es liegt in der Liebe der Ehegatten zu
einander, in der Liebe der Eltern zu den Kindern, der Kinder zu den
Eltern, in der Liebe der Geschwister, der Freunde zueinander, in der
süßen Neigung beider Geschlechter, in der Arbeitsamkeit, wodurch wir
erhalten werden, in der Tätigkeit, wodurch man für seinen Kreis, für die
Ferne, für die Menschheit wirkt, und endlich in der Ordnung und
Gestalt, womit ganze Gesellschaften und Staaten ihr Dasein umgeben und
zum Abschlusse bringen.
Darum haben alte und neue Dichter vielfach diese
Gegenstände benützt, um ihre Dichtungen dem Mitgefühle naher und ferner
Geschlechter anheim zu geben. Darum sieht der Menschenforscher, wohin
er seinen Fuß setzt, überall nur dieses Gesetz allein, weil es das
einzige Allgemeine, das einzige Erhaltende und nie Endende ist. Er sieht
es eben so gut in der niedersten Hütte wie in dem höchsten Palaste, er
sieht es in der Hingabe eines armen Weibes und in der ruhigen
Todesverachtung des Helden für das Vaterland und die Menschheit. Es hat
Bewegungen in dem menschlichen Geschlechte gegeben, wodurch den Gemütern
eine Richtung nach einem Ziele hin eingeprägt worden ist, wodurch ganze
Zeiträume auf die Dauer eine andere Gestalt gewonnen haben. Wenn in
diesen Bewegungen das Gesetz der Gerechtigkeit und Sitte erkennbar ist,
wenn sie von demselben eingeleitet und fortgeführt worden sind, so
fühlen wir uns in der ganzen Menschheit erhoben, wir fühlen uns
menschlich verallgemeinert, wir empfinden das Erhabene, wie es sich
überall in die Seelen senkt, wo durch unmeßbar große Kräfte in der Zeit
oder im Raume auf ein gestaltvolles vernunftgemäßes Ganzes zusammen
gewirkt wird. Wenn aber in diesen Bewegungen das Gesetz des Rechtes und
der Sitte nicht ersichtlich ist, wenn sie nach einseitigen und
selbstsüchtigen Zwecken ringen, dann wendet sich der Menschenforscher,
wie gewaltig und furchtbar sie auch sein mögen, mit Ekel von ihnen ab
und betrachtet sie als ein Kleines, als ein des Menschen Unwürdiges.
So
groß ist die Gestalt dieses Rechts- und Sittengesetzes, daß es überall,
wo es immer bekämpft worden ist, doch endlich allezeit siegreich und
herrlich aus dem Kampfe hervorgegangen ist. Ja wenn sogar der einzelne
oder ganze Geschlechter für Recht und Sitte untergegangen sind, so
fühlen wir sie nicht als besiegt, wir fühlen sie als triumphierend, in
unser Mitleid mischt sich ein Jauchzen und Entzücken, weil das Ganze
höher steht als der Teil, weil das Gute größer ist als der Tod, wir
sagen da, wir empfinden das Tragische und werden mit Schauern in den
reineren Äther des Sittengesetzes emporgehoben. Wenn wir die Menschheit
in der Geschichte wie einen ruhigen Silberstrom einem großen ewigen
Ziele entgegen gehen sehen, so empfinden wir das Erhabene, das
vorzugsweise Epische.
Aber wie gewaltig und in großen Zügen auch das
Tragische und Epische wirken, wie ausgezeichnete Hebel sie auch in der
Kunst sind, so sind es hauptsächlich doch immer die gewöhnlichen,
alltäglichen, in Unzahl wiederkehrenden Handlungen der Menschen, in
denen dieses Gesetz am sichersten als Schwerpunkt liegt, weil diese
Handlungen die dauernden, die gründenden sind, gleichsam die Millionen
Wurzelfasern des Baumes des Lebens. So wie in der Natur die allgemeinen
Gesetze still und unaufhörlich wirken, und das Auffällige nur eine
einzelne Äußerung dieser Gesetze ist, so wirkt das Sittengesetz still
und seelenbelebend durch den unendlichen Verkehr der Menschen, und die
Wunder des Augenblickes bei vorgefallenen Taten sind nur kleine Merkmale
dieser allgemeinen Kraft. So ist dieses Gesetz, so wie das der Natur
das welterhaltende ist, das menschenerhaltende.
Wie in der Geschichte der Natur die Ansichten über das Große sich
stets geändert haben, so ist es auch in der sittlichen Geschichte der
Menschen gewesen. Anfangs wurden sie von dem Nächstliegenden berührt,
körperliche Stärke und ihre Siege im Ringkampfe wurden gepriesen, dann
kamen Tapferkeit und Kriegesmut, dahin zielend, heftige Empfindungen und
Leidenschaften gegen feindselige Haufen und Verbindungen auszudrücken
und auszuführen, dann wurde Stammeshoheit und Familienherrschaft
besungen, inzwischen auch Schönheit und Liebe so wie Freundschaft und
Aufopferung gefeiert, dann aber erschien ein Überblick über ein
Größeres: ganze menschliche Abteilungen und Verhältnisse wurden
geordnet, das Recht des Ganzen vereint mit dem des Teiles, und Großmut
gegen den Feind und Unterdrückung seiner Empfindungen und Leidenschaften
zum Besten der Gerechtigkeit hoch und herrlich gehalten, wie ja
Mäßigung schon den Alten als die erste männliche Tugend galt, und
endlich wurde ein völkerumschlingendes Band als ein Wünschenswertes
gedacht, ein Band, das alle Gaben des einen Volkes mit denen des andern
vertauscht, die Wissenschaft fördert, ihre Schätze für alle Menschen
darlegt und in der Kunst und Religion zu dem einfach Hohen und
Himmlischen leitet.
Wie es mit dem Aufwärtssteigen des menschlichen Geschlechtes ist,
so ist es auch mit seinem Abwärtssteigen. Untergehenden Völkern
verschwindet zuerst das Maß. Sie gehen nach Einzelnem aus, sie werfen
sich mit kurzem Blick auf das Beschränkte und Unbedeutende, sie setzen
das Bedingte über das Allgemeine; dann suchen sie den Genuß und das
Sinnliche, sie suchen Befriedigung ihres Hasses und Neides gegen den
Nachbar, in ihrer Kunst wird das Einseitige geschildert, das nur von
einem Standpunkte Gültige, dann das Zerfahrene, Umstimmende,
Abenteuerliche, endlich das Sinnenreizende, und zuletzt die Unsitte und
das Laster, in der Religion sinkt das Innere zur bloßen Gestalt oder zur
üppigen Schwärmerei herab, der Unterschied zwischen Gut und Böse
verliert sich, der einzelne verachtet das Ganze und geht seiner Lust und
seinem Verderben nach, und so wird das Volk eine Beute seiner inneren
Zerwirrung oder die eines äußeren, wilderen, aber kräftigeren Feindes.
Adalbert Stifter, 1852 (aus der Vorrede zu "Bunte Steine: Erzählungen")