In einem offenbar viel verkauften neuen Buch lesen der Evolutionsbiologe Carel van Schaik und der Historiker Kai Michel die Bibel als "Tagebuch der Menschheit" (siehe unten). So soll zum Beispiel die Erzählung von der Vertreibung der ersten Menschen aus dem Paradies Erfahrungen beim Übergang vom Leben als Jäger und Sammler zum sesshaften Dasein mit Ackerbau und Viehzucht" widerspiegeln. Ganz neu ist diese These nicht. Aber was ist von ihr zu halten?
Nach Ansicht der heutigen Bibelwissenschaft, die von Carel van Schaik und Kai Michel nicht bestritten wird, ist die Paradiesgeschichte wahrscheinlich um 500 vor Christus, ganz sicher nicht vor 900 vor Christus entstanden. Der Übergang vom Leben als Jäger und Sammler zum sesshaften Dasein mit Ackerbau und Viehzucht war in der Levante (dem östlichen Mittelmeerraum, wo die Bibel entstanden ist) um 10'000 vor Christus abgeschlossen. Die Paradiesgeschichte müsste also Erinnerungen an eine mehr als 9'000 Jahre zurück liegende Vergangenheit enthalten, eine Zeit, aus der es keinerlei schriftliche Überlieferungen gibt. (Das wäre etwa so, als wenn man in heute verfassten Geschichten Erinnerungen an die Zeit um 7'000 vor Christus suchen würde.)
Ist das eine glaubhafte (oder auch nur wissenschaftlich ernst zu nehmende) Hypothese? (Ganz abgesehen davon, dass Adam und Eva im Paradies nicht gejagt und gesammelt haben, sondern einfach nur gegessen, was an Früchten auf den Bäumen wuchs.) Ist es nicht viel plausibler, dass es sich hier um Phantasien von einem leichten und unbeschwerten Leben handelt, die israelitische Bauern und Bäuerinnen ihrer alltäglichen Plackerei gegenübergestellt haben? (So wie es die Bibelwissenschaft annimmt.)
Klar: diese alltägliche Plackerei war eine Spätfolge der Sesshaftwerdung der Menschen. Aber haben die Verfasser der Erzählungen über die Anfänge der Menschheit in der Genesis das gewusst? Wohl kaum! Sonst hätten sie nicht erzählt, dass Gott den Kain (einen sesshaften Ackerbauern!), nachdem er seinen Bruder Abel erschlagen hatte, zu einem unsteten Wanderdasein auf der Erde verurteilt hat. Sie waren also der Ansicht, dass die Menschen ursprünglich sesshaft waren (zuerst im Paradies, später "östlich von Eden"), und nur einige von Gott mit einer nicht-sesshaften Lebensweise bestraft wurden.
Vielleicht ist es doch besser, wenn sich die EvolutionsbiologInnen um die Evolutionsbiologie kümmern und die BibelwissenschaftlerInnen um die Bibel?
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Gott wirft Adam und Eva aus dem Paradies, die Arche Noah übersteht die Sintflut und Jesus von Nazareth erweckt Tote zum Leben – die faszinierenden Geschichten der Bibel sind fester Bestandteil unserer Kultur. Und doch stecken sie voller Rätsel und Widersprüche, die auch jahrhundertelange theologische Kontroversen nicht lösen konnten. Der Evolutionsbiologe Carel van Schaik und der Historiker Kai Michel legen nun erstmals eine verborgene Seite der Bibel frei. Sie lesen die Heilige Schrift nicht als Wort Gottes, sondern als Tagebuch der Menschheit, das verblüffende Einblicke in die kulturelle Evolution des Homo sapiens bietet. Und plötzlich beginnen die alten Geschichten in neuem Licht zu funkeln.
Die Vertreibung aus dem Garten Eden markiert das wohl folgenreichste Ereignis der Menschheitsgeschichte: den Übergang vom Leben als Jäger und Sammler zum sesshaften Dasein mit Ackerbau und Viehzucht, das nicht nur zu Fortschritt, sondern auch zu Ungleichheit, Patriarchat und großen, anonymen Gesellschaften führte. Für die daraus resultierenden Probleme waren die Menschen aber weder biologisch noch kulturell gerüstet. Wie sie sich mühsam anpassten, wie sie versuchten, sich auf das bis dahin ungekannte Ausmaß menschlichen Leids in Gestalt von Ausbeutung, Krieg und Krankheiten einen Reim zu machen, das dokumentiert die Bibel auf erstaunliche Weise. Auch zeigt sie, woher das Bedürfnis nach Spiritualität stammt und weshalb die Menschen nicht schon immer die Angst vorm Tod umtrieb.
Die Autoren nehmen uns mit auf eine Reise voller Überraschungen, die von Eden über den Exodus aus Ägypten bis nach Golgatha und zur Apokalypse führt. Dabei eröffnet sich eine neue Perspektive auf die kulturelle Evolution des Menschen und der Religion. Wir begreifen, warum viele der biblischen Probleme uns bis zum heutigen Tage beschäftigen und warum nicht wenige von uns eine Sehnsucht nach dem Paradies verspüren. Die Bibel ist tatsächlich das Buch der Bücher. Sie geht uns selbst dann etwas an, wenn wir gar nicht an Gott glauben.