29.10.16

Nocheinmal Genesis 22

Ein Professor der Universität Zürich (Konrad Schmid) schreibt dazu (http://www.nzz.ch/articleDMYQQ-1.25689):

"Hinter der Bibel stehen keine moralischen Imperative, mittels deren die Perfektion der Welt vorangetrieben werden kann, sondern Erfahrungen, die Menschen mit Gott gemacht haben. Wenn deren literarische Gestalt so vielschichtig und ambivalent ist wie diese Erfahrungen selbst, dann spricht das zunächst einmal nicht gegen, sondern für die Bibel."

"Abraham vertraut von vornherein auf den guten Ausgang des Geschehens. Auf der Reise fragt Isaak seinen Vater nach dem fehlenden Opferlamm, Abraham antwortet: «Gott wird sich das Lamm zum Opfer selbst ersehen, mein Sohn» (Vers 8). Abrahams Gehorsam gegenüber Gott, vielfach als Kadavergehorsam gescholten, ist ihm nur möglich, weil er in sein Vertrauen auf Gott eingebunden ist. Von diesem Vertrauen darauf, dass die Verheissung am Ende nicht dahinfällt, dass sie auch über ihre denkbar radikalsten Verkehrungen hinweg gültig bleibt - davon erzählt die Erzählung von der Opferung des Sohnes."

D.h.: Wenn Gott ihn nicht davon abgehalten hätte, hätte Abraham seinen Sohn Isaak umgebracht - im Vertrauen darauf, dass Gottes "Verheissung am Ende nicht dahinfällt", dass er also als Ersatz für Isaak einen anderen Sohn bekommen hätte?!

Was für "Erfahrungen, die Menschen mit Gott gemacht haben", könnten hinter so einer Geschichte stehen? Die Erfahrung, dass Gott von ihnen (oder von einem von ihnen) zunächst gefordert hat, sein Kind umzubringen, dann aber im letzten Moment dessen Tötung verhindert hat? Haben Priester so etwas im Namen Gottes gefordert? Und dann auch wieder gestoppt? Wären das dann "Erfahrungen mit Gott"?

Oder geht es allgemein um geschichtliche Erfahrungen wie den Untergang Judas 587 v.d.Z., den man so interpretieren konnte (!), dass Gott hier wieder zurück nimmt, was er den Israeliten und Judäern verheissen und gegeben hatte (ein eigenes Land, einen eigenen Herrscher)? Dass Gott einem auf diese oder ähnliche Weise etwas wegnimmt, was er einem zuvor gegeben hatte (vgl. Hiob 1), ist aber doch etwas anderes als die Forderung, ein Kind zu töten - ganz abgesehen davon, dass es auch hier Interpretationssache ist, ob man das erfahrene Unglück als von Gott bewirkt verstehen soll.

Auf jeden Fall setzen alle "Erfahrungen mit Gott", die hinter Genesis 22 stehen könnten, voraus, dass Gott das Recht hat, unter bestimmten Umständen von Menschen zu fordern, ihr Kind zu töten, und dass er frei ist, Menschen diese Kindstötung tatsächlich ausführen zu lassen oder nicht - und dass Gott von diesem Recht und dieser Freiheit gelegentlich auch Gebrauch macht.

Ist es moralisch statthaft, Anweisungen eines solchen Gottes zu befolgen?