"Big Brother is watching you! Der Große Bruder sieht
dich!" Dieser Satz verkörpert in George Orwells Roman 1984 den Anspruch
eines totalen Überwachungsstaates, der dem einzelnen Menschen keierlei Platz
für Privates oder Intimes lässt. "Gott sieht alles!" Mit diesem Satz
sollten und sollen bisweilen Kinder davon abgehalten werden, heimlich Dinge zu
tun, die sie nach Auffassung ihrer Erzieher nicht tun sollen. Sieht Gott alles?
Und wenn ja: Was bedeutet das für das Leben der Menschen?
Im Psalm 139 lesen wir:
HERR, du erforschst mich
und kennst mich.
Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es;
du verstehst meine Gedanken von ferne.
Ich gehe oder liege, so bist du um mich
und siehst alle meine Wege.
Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge,
das du, HERR, nicht schon wüsstest.
Der Dichter dieses Gebets sieht darin etwas Unbegreifliches:
Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch,
ich kann sie nicht begreifen.
Aber er fühlt sich von Gott nicht kontrolliert und
überwacht, sondern gehalten und beschützt:
Von allen Seiten umgibst du mich
und hältst deine Hand über mir.
Weil Gott überall ist, ist der Mensch nirgendwo von Gott
getrennt oder von ihm verlassen:
Wohin soll ich gehen vor deinem Geist,
und wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht?
Führe ich gen Himmel, so bist du da;
bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da.
Nähme ich Flügel der Morgenröte
und bliebe am äußersten Meer,
so würde auch dort deine Hand mich führen
und deine Rechte mich halten.
Spräche ich: Finsternis möge mich decken
und Nacht statt Licht um mich sein –,
so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir,
und die Nacht leuchtete wie der Tag. Finsternis ist wie das
Licht.
Gott kennt den Menschen besser als dieser sich selbst kennt.
Denn Gott hat ihn geschaffen und hat - wenn der Text so zu verstehen ist -
sogar seine zukünftiges Geschick schon vor seiner Geburt festgelegt, zumindest
aber vorhergesehen und festgehalten:
Denn du hast meine Nieren bereitet
und hast mich gebildet im Mutterleibe.
Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin;
wunderbar sind deine Werke; das
erkennt meine Seele.
Es war dir mein Gebein nicht verborgen,
als ich im Verborgenen gemacht wurde,
als ich gebildet wurde unten in der Erde.
Deine Augen sahen mich,
als ich noch nicht bereitet war,
und alle Tage waren in dein Buch geschrieben,
die noch werden sollten und von denen keiner da war.
Während Gott den Menschen besser kennt und besser versteht
als dieser sich selbst, kann der Mensch Gott und seine Gedanken nicht erfassen
und begreifen:
Aber wie schwer sind für mich, Gott, deine Gedanken!
Wie ist ihre Summe so groß!
Wollte ich sie zählen, so wären sie mehr als der Sand:
Am Ende bin ich noch immer bei dir.
Weil Gott den Menschen besser kennt und besser versteht als
dieser sich selbst, tut der Mensch gut daran, sich von Gott durchs Leben führen
zu lassen. Dementsprechend endet der Psalm mit der Bitte:
Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz;
prüfe mich und erkenne, wie ich's meine.
Und sieh, ob ich auf bösem Wege bin,
und leite mich auf ewigem Wege.
Wenn aber ein Mensch die Gedanken Gottes nicht erfassen und
begreifen kann, wie soll er (oder sie) dann herausfinden, was Gott über ihn
(oder sie) denkt, ob Gott es richtig findet, was er (oder sie) tut und wie er
(oder sie) lebt, ob er (oder sie) auf dem richtigen Weg ist oder auf dem
Holzweg?
Der Psalm sagt nichts darüber. Ist sein Verfasser der
Ansicht, dass ein Mensch gar nicht wissen kann, welcher Weg für ihn richtig
ist? Will er sich deshalb in dem Sinne von Gott leiten lassen, dass er ganz
darauf verzichtet, sein Leben zu führen und zu steuern, und sich stattdessen
von Gott führen lässt? Wie muss man sich das konkret vorstellen? In dem Sinne,
dass er mehr seinen Intuitionen folgt als vernünftigen Überlegungen? In dem
Sinne, dass er nicht versucht, große und langfristige Pläne für sein Leben zu
entwerfen und umzusetzen, sondern eher den wechselnden alltäglichen
Herausforderungen gerecht zu werden trachtet? Indem er sich an die Regeln und
Richtlinien hält, die Gott (seiner Meinung nach) für das Leben aufgestellt hat
(also z.B. die Zehn Gebote oder die Weisheitslehren des Sprüchebuchs)? Oder
indem er in sich hineinhört und zu vernehmen versucht, was Gott ihm sagen will?
Aber das würde ja schon wieder voraussetzen, dass der Mensch Gottes Gedanken
verstehen kann.
Wie auch immer der Verfasser es sich konkret vorstellt, dass
Gott ihn durchs Leben führt - er ist dadurch ganz offenkundig nicht vor
Irrtümern bewahrt worden. Oder wie soll man es verstehen, wenn er vor der
abschließenden Bitte schreibt:
Ach Gott, wolltest du doch die Gottlosen töten!
Dass doch die Blutgierigen von mir wichen!
Denn sie reden von dir lästerlich,
und deine Feinde erheben sich mit frechem Mut.
Sollte ich nicht hassen, HERR, die dich hassen,
und verabscheuen, die sich gegen dich erheben?
Ich hasse sie mit ganzem Ernst;
sie sind mir zu Feinden geworden.
Darf sich ein Mensch derart mit Gott identifizieren? Kann
der Verfasser im Ernst meinen, dass ein derartiger Hass auf andere Menschen der
Weg ist, der dem Willen und der Einsicht Gottes entspricht? Müsste er nicht
einsehen, dass er selbst vor den Augen Gottes nicht viel weniger gottlos,
gotteslästerlich und gottesfeindlich aussieht als die "Gottlosen",
auf die er herabsieht und denen er den Tod wünscht? So wie es in Psalm 14 heißt:
Der HERR schaut vom Himmel auf die Menschenkinder,
dass er sehe, ob jemand klug sei und nach Gott frage.
Aber sie sind alle abgewichen und allesamt verdorben;
da ist keiner, der Gutes tut, auch nicht einer.
Hängt es mit der Selbstgerechtigkeit des Verfassers von
Psalm 139 zusammen, dass er allem Anschein nach keinerlei Probleme damit hat,
dass Gott ihn stets beobachtet und völlig durchschaut? Hat er deshalb keine
Angst, vor Gott als "gläserner Mensch" dazustehen, weil er meint, vor
ihm nichts zu verbergen zu haben?
Ein ähnliches Bild von sich selbst hat auch Hiob - und dies
nach dem, was in Hiob 1-2 über ihn erzählt wird, völlig zurecht. Doch er kann
der ständigen Überwachung durch Gott nichts Positives abgewinnen:
Was ist der Mensch, dass du ihn groß achtest
und dich um ihn bekümmerst?
Jeden Morgen suchst du ihn heim
und prüfst ihn alle Stunden.
Warum blickst du nicht einmal von mir weg
und lässt mir keinen Atemzug Ruhe? (Hiob 7)
Nach Hiobs Ansicht übertreibt es Gott mit der Überwachung
und Kontrolle des Menschen. Als Schöpfer des Menschen weiß Gott, dass die
Menschen nicht so perfekt sind wie er, dass sie gelegentlich Fehler machen und
sündigen. Darüber sollte er großzügig hinwegsehen:
Hab ich gesündigt, was tue ich dir damit an, du
Menschenhüter?
Warum machst du mich zum Ziel deiner Anläufe,
dass ich mir selbst eine Last bin?
Und warum vergibst du mir meine Sünde nicht
oder lässt meine Schuld hingehen? (Hiob 7)
Aber Gott ist nicht großzügig - das ist jedenfalls Hiobs
Eindruck. Gott rechnet den Menschen kleinlich jeden Fehler an, und selbst wenn
sie keine Fehler machen, erkennt er das nicht an, sondern behandelt sie
schlecht:
Ich soll ja doch schuldig sein!
Warum mühe ich mich denn so vergeblich?
Wenn ich mich auch mit Schneewasser wüsche
und reinigte meine Hände mit Lauge,
so wirst du mich doch eintauchen in die Grube,
dass sich meine Kleider vor mir ekeln. (Hiob 9)
Deine Hände haben mich gebildet und bereitet;
danach hast du dich abgewandt und willst mich verderben?
Bedenke doch, dass du mich aus Erde gemacht hast,
und lässt mich wieder zum Staub zurückkehren?
Hast du mich nicht wie Milch hingegossen
und wie Käse gerinnen lassen?
Du hast mir Haut und Fleisch angezogen;
mit Knochen und Sehnen hast du mich zusammengefügt;
Leben und Wohltat hast du an mir getan,
und deine Obhut hat meinen Odem bewahrt.
Aber du verbargst in deinem Herzen –
ich weiß, du hattest das im Sinn –,
dass du darauf achten wolltest, wenn ich sündigte,
und mich von meiner Schuld nicht lossprechen.
Wäre ich schuldig, dann wehe mir!
Und wäre ich schuldlos, so dürfte ich doch mein Haupt nicht
erheben,
gesättigt mit Schmach und getränkt mit Elend.
Und wenn ich es aufrichtete, so würdest du mich jagen wie
ein Löwe
und wiederum erschreckend an mir handeln.
Du würdest immer neue Zeugen gegen mich stellen
und deinen Zorn auf mich noch mehren
und immer neue Heerhaufen gegen mich senden. (Hiob 10)
Warum ist der Gedanke, dass Gott den Menschen sieht, kennt
und durchschaut, für den Verfasser von Psalm 139 so tröstlich, für Hiob dagegen
so schrecklich? Weil es Hiob schlechter geht als dem Verfasser von Psalm 139?
Oder weil Hiob - trotz allen Unglücks, das ihn getroffen hat (oder sogar
deswegen?) - selbstbewusster ist als jener? Weil er sich nicht durchs Leben
führen lassen will wie ein Schaf von seinem Hirten (Psalm 23!), sondern
Verantwortung für sich selbst übernehmen will (vgl. Hiob 31)?
Liest man die Reden Gottes in Hiob 38-41, so hat man nicht
den Eindruck, dass Gott (jedenfalls nach seinem Selbstverständnis) so ein
"Kontrollfreak" ist, wie Hiob meinte. Sicher, er sorgt dafür, dass in
der Welt alles seine Ordnung hat, dass das Meer nicht ausläuft, die Sterne zur
rechten Zeit auf- und untergehen und die Tiere rechtzeitig ihr Futter bekommen.
Aber dabei hat er doch mehr das Große und Ganze im Blick als jedes Detail und
hat sogar Freude an solchen Ungetümen wie dem Flusspferd (Behemoth) und dem
Krokodil (Leviathan), die vielen seiner Zeitgenossen als Sinnbilder des
Chaotischen und Lebensbedrohlichen in der Welt erschienen.
Dass Gott nicht ständig alles kontrolliert und bestimmt,
wird auch sonst in der Bibel oft vorausgesetzt - man denke nur an die
Paradiesgeschichte (Genesis 3), in der er die Menschen erst suchen und verhören
muss, um herauszufinden, was geschehen ist, oder an die Geschichte vom Turmbau
zu Babel, in der Gott vom Himmel hinabfährt, um zu sehen, was es mit der Stadt
und dem Turm auf sich hat, die da von den Menschen gebaut werden (Genesis 11).
Gott muss nicht ständig alles sehen und kontrollieren, um zu bemerken, wo
Unrecht geschieht und dagegen einzuschreiten (vgl. Genesis 4). Wenn der
Gedanke, dass Gott alles sieht - oder doch zumindest alles herausbekommt, wenn
er will - Menschen davon abhält Unrecht zu tun und sie dazu anspornt, ein
besseres Leben zu führen, ist das ja vielleicht gar nicht so schlecht - und
muss wohl auch nicht unbedingt direkt in die Neurose führen, zumal dann nicht,
wenn man sich von einem gnädigen und gütigen Gott beobachtet fühlt.
Eine interessante Variante dieses Gedankens findet sich zu
Beginn des Schulchan Aruch, der im 16. Jahrhundert von Josef Karo verfassten
Zusammenfassung der religiösen Vorschriften des Judentums:
Scripture
says, "I placed Hashem before me always". This is a great concept in
the Torah and is a paramount attribute for the Tzadikim (righteous people) who
walk in the way of G-d. For the way in which a person sits, moves around, and
carries out his daily activities while he is alone his house is not the same
way he should engage in these activities while standing before a great King. In
addition, the way one speaks while amongst those in his home and the
conversations he partakes with his relatives is not the same manner in which he
would speak while in the presence of a mortal King. Surely when one considers
in his mind that the mighty King, The Holy One blessed be his name, where the
whole world is filled with his glory, stands before him and sees his deeds, as
it states: "If a man will conceal his secrets and I will not see it,
states Hashem; immediately the fear and the proper awed train of thought of
Hashem will descend upon him and he will always be embarrassed before G-d. And
one should not be ashamed before people who mock his service to Hashem. Also,
when one is in private and when one lies on his bed, he should know before whom
he is lying and immediately his should arise with enthusiasm to serve his
creator and he will get up. (Übersetzung von Jay Dinovitser, www.shulchanarach.com).
Der Gedanke, ständig vor den Augen des Schöpfers und Herrn
des Universums zu leben, hat etwas Erschreckendes und Furcht Einflößendes. Er
schließt aber auch den Aspekt ein, dass es für einen Menschen eine große Ehre
ist und ihm eine hohe Würde verleiht, vor den Augen und in der Nähe eines so
großen Königs leben zu dürfen. Wenn ein Mensch dieser Ehre und Würde durch
einen anständigen Lebenswandel gerecht zu werden versucht, kann ihn das weit
über die elenden und entwürdigenden Umstände erheben, in denen er womöglich
sein Leben fristen muss.