24.6.12

Bescheidenheit

Rabbi Jehuda ben Samuel ha-Chassid (Juda der Fromme, lebte um 1200 in Regensburg) schreibt in seinem „Buch der Frommen“ (Sefer ha-Cassidim):

§15. BESCHEIDENHEIT. Suche Würde und Ehre zu meiden. Wie ist das zu verstehen? Sitzt einer vor seinem Lehrer, und es fällt ihm eine scharfsinnige Frage, die er früher einmal gestellt oder eine treffende Antwort ein, durch die er einmal eine schwierige Frage gelöst hat, so sage er nicht zu seinem Lehrer oder Mithörer: „Ich habe einmal dieses gefragt, ich habe einmal dieses geantwortet,“ sondern er schiebe diese Frage oder Antwort seinem Kollegen oder Lehrer zu, überlasse diesem die Ehre und nehme sie nicht für sich in Anspruch und versage sich den inneren Genuss an einer etwaigen Ehrung oder Belobigung, damit er nicht eitel und eingebildet werde. So finden wir auch, dass Moses zu Josua gesagt hat: „Erwähle uns Männer“, (2. Buch Mose 17,9. Vgl. Midrasch Jalkut z. St.) was auch R. Gamaliel veranlasste, die Festsetzung des Neumonds, die ihm allein zustand, auch als im Namen seiner Kollegen vollzogen zu erklären. So hat auch Gott zu Jesaias (6,8) gesprochen: „Wen soll ich schicken, und wer wird für uns gehen?“

Als Lehre des Anstandes für Meister und Lehrer merke man: Den Namen des andern stelle man immer dem eigenen voran, so dass man sage: „Mein Kollege und ich“ und nicht umgekehrt, sondern wie es die Schüler Schammais und Hilleis taten, die bei einem Meinungsstreit die Begründung der Meinung der Gegenpartei der der eigenen voranstellten, und so mache man es auch im gewöhnlichen Verkehr. Und wenn einem Schüler beim Vortrag in der Hochschule eine Schwierigkeit auffällt, oder er weiss auf eine zur Lösung gestellte Schwierigkeit eine treffende Lösung zu geben, so dränge er sich nicht vor, sie zu sagen, bis er sieht, dass niemand darauf kommt, dann mag er seine Ansicht vortragen.

Hört einer einen andern etwas mitteilen, was er schon weiss, so unterbreche er jenen nicht voreilig mit den Worten, dass er das schon kenne, sondern er schweige und höre ihm zu, denn es kann ja sein, dass er da noch etwas Wissenswertes hört, was er bisher nicht gewusst, und wenn auch nicht, welchen Nutzen hat er davon, sich zu rühmen: „Ich habe das so gut wie du gewusst“? Kurz, alles, was der Mensch tun kann, seine eigene Anerkennung einzuschränken, um die der gottesfürchtigen Menschen zu erhöhen, soll er tun, denn so heisst es: „In den eigenen Augen gering und unbedeutend und die Gottesfürchtigen ehren.“ (Psalm 15,4) Und wenn er sieht, dass andere sich durch Bescheidenheit geehrt fühlen, so soll er auf sie hören, auch wenn ihm beschämender Vorwurf daraus erwächst. Wenn z. B. Männer, die grösser und bedeutender als er sind, nicht vor ihm hergehen wollen, denn sie wollen in Bescheidenheit zurücktreten, er aber schämt sich, ihnen voranzugehen, da man, täte er es, dies ihm als Frechheit und Ueberhebung auslegen könnte, so muss er diese mögliche Beschimpfung auf sich nehmen und sich dem Willen der andern fügen. Man darf einem andern nicht eine Ehre erweisen, die dieser als Ehrenverletzung ansehen könnte, dass man z. B. einen andern mit einem Titel anredet, den er nicht besitzt und der ihm nicht gebührt. Auch soll er in Gegenwart seines Lehrers nicht den Namen eines andern seiner Lehrer mit besonderm Ruhmestitel auszeichnen; ebenso wenn er vor seinem Lehrer den Namen von dessen Lehrer erwähnt, darf er nicht: „dein Lehrer“ sagen, denn die Schüler des R. Eleasar haben diesem gegenüber bei der Erwähnung einer Bestimmung von dessen Lehrer R. Jochanan ben Sakkai diesen seinen Kollegen genannt (Beza 5b). Wie man selbst sich bescheiden führt, davon darf man nicht sprechen, wie es heisst: „Der Fremde rühme dich, nicht dein Mund“ (Sprüche Salomos 27,2), ausser, es sei, den Schülern durch sein eigenes Tun Muster und Beispiel für ihr Verhalten zu geben, wie David gesprochen: „Ich war aufrichtig mit ihm, denn ich wahrte die Wege meines Gottes (Psalm 18,22), und so finden wir auch, dass (R. Jochanan ben Sakkai) seinen Schülern, auf deren Frage, wieso er so alt geworden, Mitteilungen über seine Lebensführung machte (Sukka 28a). Platz und Gelegenheit, wo zu erwarten ist, dass man seiner rühmend erwähne, meide er, denn es ist unmöglich, dass er nicht eine innere Freude darüber empfinde, also Nutzen von seiner Lebensweise ernte. Was der Mensch auch Verdienstliches tun möge, ist nicht Bescheidenheit damit verbunden, so ist dies wie ein Gericht ohne Salz, und jede Bescheidenheit, die nicht mit Gottesfurcht vereint ist, ist wie eine Speise ohne Gewürze.

Zitiert nach: A. Sulzbach, Bilder aus der jüdischen Vergangenheit, Frankfurt am Main: Verlag von J. Kauffmann, 1914