3.8.12

Verstehen und Zustimmen


In der Literatur zur christlich-theologischen Bibelauslegung begegnet man immer wieder der Behauptung, man habe einen biblischen Text erst richtig verstanden, wenn man seine Wahrheit eingesehen habe. Oft wird diese Forderung noch verschärft: Man könne einen biblischen Text überhaupt nur verstehen, wenn man an ihn mit der Überzeugung (bzw. dem Vertrauen) herangehe, dass er die Wahrheit sagt. Sonst werde man dem Wahrheitsanspruch der Bibel nicht gerecht.
Diese Behauptungen erwecken zumindest den Verdacht, dass es sich bei ihnen um eine Immunisierungsstrategie handelt, mit der man sich kritische Anfragen von Seiten der Wissenschaft vom Hals halten will. Aber dahinter kann auch umgekehrt das Interesse stehen, sich vor einem religiösen Publikum dafür zu rechtfertigen, dass man (auch) wissenschaftliche Exegese vetreibt: Keine Sorge, das geht schon nicht an die Substanz - wir sind schliesslich auch von der Wahrheit der Bibel überzeugt.
Mann muss sich aber darüber im Klaren sein: Wenn diese Behauptungen stimmen, kann es keine wissenschaftliche Auslegung biblischer Texte geben (bzw. ist die wissenschaftliche Bibelauslegung von vornherein zum Scheitern verurteilt). Denn Wissenschaft ist immer ergebnisoffen. Sie ist nicht voraussetzungsfrei, kann also z.B. die Wahrheit eines Textes einmal hypothetisch voraussetzen. Aber jede Voraussetzung muss jederzeit kritisch in Frage gestellt werden können.
Man kann nicht den Fünfer behalten und das Weggli bekommen. Die historisch-kritische Bibelauslegung hat nun einmal gezeigt, dass die Bibel das Produkt von Menschen ist. (Die Bibel hat auch nie etwas anderes behauptet.) Das schließt nicht aus, dass diesen Menschen etwas von Gott "offenbart" worden ist (wobei genauer zu erklären wäre, was man mit diesem Satz meint). Aber das kann man nicht voraussetzen, sondern das kann sich allenfalls bei der Beschäftigung mit den Texten heute zeigen. (Selbst wenn die biblischen Autoren davon überzeugt waren, dass Gott ihnen etwas offenbart hat, muss man kritisch fragen, ob man auch als heutiger Leser/heutige Leserin zu dieser Überzeugung kommen kann.)
Kurzum: Man kann allenfalls sagen, dass man den biblischen Texten - so wie allen Texten - mit der Bereitschaft begegnen sollte, von ihnen etwas zu lernen. Aus Gründen der hermeneutischen Klarheit ist es unbedingt nötig, zwischen dem Verstehen eines Textes und der Zustimmung zu dem, was er sagt (bzw. der Befolgung der in ihm erhaltenen Aufforderungen) zu unterscheiden. Eine Auslegung, die diese Unterscheidung im Ansatz verweigert, ist nicht wissenschaftlich, auch wenn sie noch so viele Methoden und Ergebnisse wissenschaftlicher Bibelauslegung aufnimmt.
Darüber hinaus wäre es auch theologisch äußerst fragwürdig, wenn man von Menschen, die die Bibel lesen, verstehen und interpretieren wollen, ein vorgängiges "Einverständnis" mit den biblischen Texten fordern würde. Ein Gottesbild, nach dem Gott von den Menschen blinden Gehorsam gegenüber willkürlichen göttlichen Geboten und Verboten fordert, entspricht dem biblischen Gesamtzeugnis sicher nicht. 
Eher schon könnte man argumentieren, dass Gott besser Bescheid weiß als die Menschen und diese ihm deshalb glauben sollten, auch wenn sie nicht alles nachvollziehen können, was er sagt. Der springende Punkt ist hier der Umfang des "nicht alles": Glauben im Sinne von Vertrauen setzt voraus, dass der/die (oder das), auf den/die (oder das) man vertraut, sich als so vertrauenswürdig erwiesen hat, dass man ihm/ihr auch in den noch nicht durch Erfahrung gedeckten Punkten Vertrauen schenkt. Glauben geht also über menschliche Erfahrung und Einsicht hinaus, ist aber darin begründet.
Aber auch auf diesem Weg kommt man nicht dahin, dass Christen aufgrund dessen, was sie in der Bibel als wahr eingesehen haben, glauben/darauf vertrauen sollten, dass alles in der Bibel wahr ist. Das wird durch die nicht nur marginalen, sondern theologisch substanziellen Widersprüche innerhalb der Bibel verunmöglicht, aber auch durch Aussagen in der Bibel, die schon aufgrund des biblischen Gesamtzeugnisses kaum als wahr gelten können.
So behauptet z.B. Genesis 22, Gott habe Abraham aufgefordert, seinen Sohn Isaak als Opfer zu schlachten und zu verbrennen. Nach Ezechiel 20 hat Gott von den Israeliten verlangt, ihre erstgeborenen Söhne ihm zu opfern (dies als Strafe für den Abfall der Israeliten zu anderen Göttern). Nach Jeremia 7 hat ist Gott niemals auf die Idee gekommen, geschweige denn hat er jemals ein Gebot erlassen, dass Menschen ihm ihre Kinder opfern sollten. Kann es angesichts des gesamtbiblischen Zeugnisses und der Entwicklung des Christentums und der Menschheit bis heute einen vernünftigen Zweifel geben, welche von den drei Stellen wahr ist und welche nicht - bzw. welche mehr und welche weniger wahr ist? Immerhin zeigen alle drei ein deutliches Unbehagen gegenüber dem Gedanken, dass Gott Kinderopfer fordern könnte. 
Aber macht es irgend einen Sinn, anzunehmen, dass Gott den Verfassern dieser drei Texte jeweils etwas anderes offenbart habe? Ist es nicht sinnvoller, zu sagen, dass Gott ihnen seine Ablehnung von Kinderopfern in unterschiedlich großer Klarheit offenbart habe? Und kann es dann nicht vielleicht sein, dass er uns, indem er uns mit allen drei Texten - und einer Menge anderer Texte, Erfahrungen und Einsichten - konfrontiert, noch klarer offenbart, was er denkt? Das wäre dann ein Beispiel dafür, dass eine kritische Bibelinterpretation dem Wahrheits- und Offenbarungspotenzial der Bibel angemessener ist als eine scheinbar fromme, ängstliche "Hermeneutik des Einverständnisses".