5.8.12

Unfreiwillige Liebe

Stellen Sie sich vor, Sie hätten sich unsterblich in einen Menschen verliebt, der/die Ihre Liebe nicht erwidert. Nun erfahren Sie, dass es ein neues Medikament gibt, das bewirkt, dass ein Mensch Liebe für einen bestimmten anderen Menschen empfindet. Die Wirkung dieses Medikaments ist unbegrenzt. Es muss nur ein einziges Mal verabreicht werden. Sie erhalten die Möglichkeit, der von Ihnen geliebten Person dieses Medikament zu verabreichen? Werden Sie das tun? Wollen sie das? Dürfen Sie das?


Moralisch könnte man dagegen einwenden, dass Sie mit dem Einsatz dieses Medikaments die betroffene Person gegen ihren Willen oder doch zumindest ohne ihre Zustimmung manipulieren. Aber würden Sie das nicht auch dann tun (oder wenigstens zu tun versuchen), wenn Sie die Person mit Geschenken, Komplimenten oder Einladungen dazu zu bewegen versuchen würden, Sie zu lieben?


Ein Unterschied liegt sicher darin, dass ein solches, eher konventionelles Liebeswerben dem/der Umworbenen die Freiheit lässt, sich davon nicht beeinflussen zu lassen. Doch kann es auch vorkommen, dass sich Ihr Liebeswerben als "unwiderstehlich" erweist und den/die Umworbene(n) dazu bringt, Sie, anders als zuvor, nun doch zu lieben. Die Wirkung des konventionellen Liebeswerbens wäre dann nicht wesentlich anders als die des neuen Medikaments: Jemand, der/die Sie zuerst nicht liebt, wird dazu gebracht, Sie am Ende doch zu lieben.


Ein Unterschied besteht dann allerdings immerhin noch darin, dass das Medikament eine hundertprozentige Erfolgsquote hat, das traditionelle Liebeswerben hingegen eine deutlich geringere. Ist dieser Unterschied moralisch relevant? Kann man sagen, dass die Medizin einen Sinneswandel erzwingt, während das konventionelle Liebeswerben darum wirbt?


Aber beruht der Erfolg des Liebeswerbens darauf, dass es eine Person zu einem freiwilligen, bewusst gewählten Sinneswandel bewegt, oder eher darauf, dass sich das Liebeswerben für den/die Umworbene(n) als unwiderstehlich erweist? Ist das kein Zwang? Allerdings weiß ich zu Beginn meines Liebeswerbens nicht, ob es zum Erfolg führen wird (anders als beim Einsatz des Medikaments). Kann man sagen, dass ich mit meinem Liebeswerben den/die Geliebte(n) zur Erwiderung meiner Liebe zu zwingen versuche? Wohl eher nicht. Insofern erscheint das konventionelle Liebeswerben moralisch weniger fragwürdig als der Einsatz eines Liebe erzeugenden Medikaments. (Doch wie sieht es aus, wenn das Medikament eine niedrigere Erfolgsquote hat?)


Es fragt sich auch, ob ich das, was ich durch die Verabreichung des Medikaments erreichen könnte, wirklich will. Freilich will ich von dieser Person geliebt werden, aber will ich von ihr geliebt werden, weil ich ihr ein entsprechendes Medikament verabreicht habe? Hätte ich dann nicht immer das Gefühl, dass der/die Geliebte mich irgendwie nicht wirklich liebt, sondern nur, weil sie das Medikament eingenommen hat? Möchte ich nicht aus freien Stücken geliebt werden - oder infolge der überwältigen und unwiderstehlichen Macht der Liebe - aber jedenfalls nicht infolge einer medikamentösen Manipulation? Oder ist das nur ein altmodisches Vorurteil?


Aus der Sicht des/der Geliebten gibt es ja keinen Unterschied zwischen beiden Formen der Liebe. Oder vielleicht doch? Könnte Sie im Falle des traditionellen Liebeswerbens vielleicht später erzählen, wie und womit sie von der um sie werbenden Person Schritt für Schritt dazu bewegt wurde, deren Liebe zu erwidern, während sie im Fall des Medikaments nur sagen könnte: Ich weiß auch nicht, wie es zu diesem Sinneswandel gekommen ist? (Anders wäre es, wenn sie das Medikament willentlich und wissentlich eingenommen hätte.)


Wie stellt sich der Sachverhalt dar, wenn ich die Medizin mit Placebos mische und allenfalls selbst nicht weiß, ob mein(e) Geliebte(r) durch die Medizin oder durch mein Liebeswerben dazu bewegt wurde, meine Liebe zu erwidern? Ich denke, auch dann bleibt irgendwie ein schales Gefühl und ein leiser Zweifel bestehen.


Sehnen wir uns nach Liebe als etwas, das uns ungezwungen und unverfügbar zu-fällt? Gehört es zum Glück als Befindlichkeit, dass es Glückssache (zu-fällig und unverfügbar) ist und nicht planvoll geschmiedet werden kann?