In einem Beitrag zum Feuilleton-Teil der Neuen Züricher
Zeitung vom 30.8.2012 mit dem Titel „Kindeswohl und Elternpflicht“* plädiert Ludger
Lütkehaus „für das Prinzip Aufschub“ in der religiösen Erziehung: „die Ausübung
der elterlichen Erziehungsrechte [darf] der späteren freien Entscheidung in
Fragen der Religionszugehörigkeit nicht irreversibel vorgreifen“. Eltern sind
dazu verpflichtet, „ihre unmündigen Kinder so früh wie möglich zur Mündigkeit
zu befähigen und die mündig gewordenen unverzüglich in ihre Freiheit als
«Weltbürger» zu entlassen“.
Vor diesem Hintergrund polemisiert Lütkehaus gegen die von
Peter Sloterdijk so genannten «Weitergabe-Institutionen», «Taufnationen» und
«Religionsnationen» als «geschlossene Entbindungsanstalten», die „für eine
unnötig vorauseilende Bekenntnisdetermination der unmündigen Kinder [sorgen].
In einer zirkulären konfessionellen Praxis schaffen sie selber jene homogenen
religiösen Milieus, die sie als Rechtfertigungsgrund der von ihnen ausgeübten
Konformierung bemühen.“
Lütkehaus schließt seinen Beitrag mit der Feststellung: „Die
Einübung in die Fremdbestimmung als Weg zur Selbstbestimmung - dieses Sophisma
ist etwas zu dialektisch geraten, um überzeugend zu sein. Man kann Liberalität
nicht mit Illiberalität stiften. Auch die Religionsfreiheit ist unteilbar.“
Man kann Lütkehaus‘ Überlegungen auch als Theologe durchaus
etwas abgewinnen. Die religiöse Erziehung von Kindern führt ja heute im
Christentum vielfach dazu, dass Menschen das Christentum als Kinderglauben
kennenlernen, von dem sie sich als Jugendliche oder junge Erwachsene
folgerichtig abwenden. Weil man den Schritt zu einem erwachsenen und mündigen
Christentum nicht mehr mitgeht, bleibt der Eindruck zurück, das Christentum sei
ein wenig naiv und infantil. Erwachsenen Christen wird dementsprechend mehr
oder weniger selbstverständlich unterstellt, dass sie einem Kinderglauben
anhängen, wie man ihn selbst in seiner Kindheit kennengelernt hat. Von daher
könnte man auch aus religiösen Gründen für ein „Prinzip Aufschub“ plädieren.
Allerdings geht Lütkehaus in seiner Argumentation von
stillschweigenden Voraussetzungen aus, die bei näherer Betrachtung keineswegs plausibel
sind. So suggeriert sie, es gebe in der Erziehung nur die Wahl zwischen einer „vorauseilenden
Bekenntnisdetermination unmündiger Kinder“ und einer „negativen Erziehung“, die
allen „dogmatischen Festlegungen“ entgegenwirkt. Wird ein Kind, das in einer
bestimmten religiösen Tradition erzogen wird, dadurch in seinem Bekenntnis „determiniert“?
Die Realität beweist das Gegenteil: Es sind in unserer Gesellschaft nicht nur Ausnahmefälle,
in denen sich Erwachsene von der Religion ihrer Kindheit abwenden. Sie sind
also offensichtlich nicht durch ihre religiöse Erziehung zu einem Bekenntnis „determiniert“
worden.
Religiöse Traditionen wie die Konfirmation oder die Feier der Bar/Bat Mizwa fordern junge Erwachsene ausdrücklich dazu heraus, in ihrer inzwischen gewonnenen Freiheit und Mündigkeit selbst zu dem religiösen Bekenntnis Stellung zu nehmen, in dem sie erzogen worden sind. Selbst die religiös ziemlich konservativen Amischen räumen jungen Erwachsenen vor der Entscheidung, der Gemeinde beizutreten, eine Zeit des „Rumspringa“ ein, während der Eltern ihren Kindern viele Freiheiten einräumen, die nach dem Beitritt nicht mehr geduldet würden.
Religiöse Traditionen wie die Konfirmation oder die Feier der Bar/Bat Mizwa fordern junge Erwachsene ausdrücklich dazu heraus, in ihrer inzwischen gewonnenen Freiheit und Mündigkeit selbst zu dem religiösen Bekenntnis Stellung zu nehmen, in dem sie erzogen worden sind. Selbst die religiös ziemlich konservativen Amischen räumen jungen Erwachsenen vor der Entscheidung, der Gemeinde beizutreten, eine Zeit des „Rumspringa“ ein, während der Eltern ihren Kindern viele Freiheiten einräumen, die nach dem Beitritt nicht mehr geduldet würden.
Umgekehrt kann man fragen, ob eine „religiös neutrale“ Erziehung
Kinder nicht bereits in dem Sinne religiös „determiniert“, dass ihnen
vermittelt wird, Religion sei etwas Unwichtiges, auf das man auch gut
verzichten könne. Man kann ja wohl kaum vernünftigerweise von Eltern fordern,
dass sie ihre eigenen religiösen Überzeugungen vor ihren Kindern verbergen.
Was man fordern kann und muss, ist, dass heranwachsende
Kinder ihrer geistigen und moralischen Reife entsprechend die Freiheit und
Gelegenheit haben sollen, sich zu entscheiden, wie sie sich zu den Traditionen
verhalten wollen, in denen sie erzogen worden sind. Um sich in dieser Weise
frei und mündig gegenüber religiösen (aber auch un- oder antireligiösen) Traditionen
verhalten zu können, ist es aber durchaus hilfreich, sie erst einmal gründlich
kennen gelernt zu haben.
All dies spricht nicht für eine möglichst religions- und
bekenntnis-lose Erziehung, sondern für eine religiöse Erziehung, die auf
Freiheit und Mündigkeit zielt und deshalb nicht irreversibel ist. Man kann seine
Taufe als Kind später nicht einfach rückgängig machen, aber man kann sich davon
lossagen oder sie stillschweigend ignorieren. Bei der Beschneidung scheint die
Sache nicht ganz so einfach zu sein. Aber auch psychische Prägungen durch frühe
Kindheitserfahrungen sind oft nicht so einfach loszuwerden.
Dass Eltern ihre Kinder beeinflussen, ist wohl kaum zu
vermeiden - und es zu vermeiden, wäre wohl auch gar nicht wünschenswert. Eine
solche Beeinflussung findet ja nicht nur auf dem Gebiet der Religion statt,
sondern z.B. auch hinsichtlich der Sprache, der Kultur und der Moral, die
Eltern ihren Kindern vermitteln. Auf dem Gebiet der Moral würde man wohl kaum
für ein „Prinzip Aufschub“ plädieren: Weil erwachsene Menschen sich nicht aus
Zwang, sondern aus freier Einsicht moralisch verhalten sollen, sollte man
Kindern möglichst wenig Moral beibringen, um sie nicht „dogmatisch“ auf eine
bestimmte Moral festzulegen und sie so moralisch zu „determinieren“. Im
Gegenteil wird man Kindern zunächst relativ einfache und leicht fassliche
Moralvorstellungen zu vemitteln versuchen, um sie dann später, wenn sie älter
und reifer werden, an einen reflektierten und kritischen Umgang mit moralischen
Vorstellungen heranzuführen und zu selbständiger und mündiger moralischer
Urteilsbildung anzuleiten.
Eine solche moralische Erziehung kann schiefgehen, es kann
sein, dass Eltern damit überfordert sind. Deshalb sollten sie durch öffentliche
Bildungsinstitutionen darin unterstützt werden, was aber ebenfalls keinen
Erfolg garantieren kann. Trotzdem kämen wir wohl kaum auf die Idee, wegen dieser
Risiken einen Aufschub moralischer Erziehung zu fordern. Warum
sollte es auf dem Gebiet der Religion grundsätzlich anders sein?