2.9.12

Religiöse Erziehung und Religionsfreiheit


In einem Beitrag zum Feuilleton-Teil der Neuen Züricher Zeitung vom 30.8.2012 mit dem Titel „Kindeswohl und Elternpflicht“* plädiert Ludger Lütkehaus „für das Prinzip Aufschub“ in der religiösen Erziehung: „die Ausübung der elterlichen Erziehungsrechte [darf] der späteren freien Entscheidung in Fragen der Religionszugehörigkeit nicht irreversibel vorgreifen“. Eltern sind dazu verpflichtet, „ihre unmündigen Kinder so früh wie möglich zur Mündigkeit zu befähigen und die mündig gewordenen unverzüglich in ihre Freiheit als «Weltbürger» zu entlassen“.

Vor diesem Hintergrund polemisiert Lütkehaus gegen die von Peter Sloterdijk so genannten «Weitergabe-Institutionen», «Taufnationen» und «Religionsnationen» als «geschlossene Entbindungsanstalten», die „für eine unnötig vorauseilende Bekenntnisdetermination der unmündigen Kinder [sorgen]. In einer zirkulären konfessionellen Praxis schaffen sie selber jene homogenen religiösen Milieus, die sie als Rechtfertigungsgrund der von ihnen ausgeübten Konformierung bemühen.“

Zwar habe Robert Spaemann recht, „dass es einen «Nullpunkt» der Erziehung - zumal der religiösen - nicht gebe und geben könne“. „Aber die Schlussfolgerung daraus ist gerade nicht eine möglichst frühe und möglichst umfassende religiöse Festlegung, sondern das «Prinzip Aufschub»: «Handle so, dass du deine Kinder nicht ohne Not religiös determinierst! Handle so, dass die religiöse Erziehung deiner Kinder ein Maximum an Freiheit gewähre!» Die Vorurteilskritik der europäischen Aufklärung, vor allem die Philosophie Schopenhauers, hat deswegen für das Konzept einer «negativen Erziehung» plädiert, deren Aufgabe es ist, den dogmatischen Festlegungen, die sich einer frühen, für «positiv» gehaltenen Determination verdanken, zuvorzukommen oder sie abzubauen.“

Lütkehaus schließt seinen Beitrag mit der Feststellung: „Die Einübung in die Fremdbestimmung als Weg zur Selbstbestimmung - dieses Sophisma ist etwas zu dialektisch geraten, um überzeugend zu sein. Man kann Liberalität nicht mit Illiberalität stiften. Auch die Religionsfreiheit ist unteilbar.“
Man kann Lütkehaus‘ Überlegungen auch als Theologe durchaus etwas abgewinnen. Die religiöse Erziehung von Kindern führt ja heute im Christentum vielfach dazu, dass Menschen das Christentum als Kinderglauben kennenlernen, von dem sie sich als Jugendliche oder junge Erwachsene folgerichtig abwenden. Weil man den Schritt zu einem erwachsenen und mündigen Christentum nicht mehr mitgeht, bleibt der Eindruck zurück, das Christentum sei ein wenig naiv und infantil. Erwachsenen Christen wird dementsprechend mehr oder weniger selbstverständlich unterstellt, dass sie einem Kinderglauben anhängen, wie man ihn selbst in seiner Kindheit kennengelernt hat. Von daher könnte man auch aus religiösen Gründen für ein „Prinzip Aufschub“ plädieren.

Allerdings geht Lütkehaus in seiner Argumentation von stillschweigenden Voraussetzungen aus, die bei näherer Betrachtung keineswegs plausibel sind. So suggeriert sie, es gebe in der Erziehung nur die Wahl zwischen einer „vorauseilenden Bekenntnisdetermination unmündiger Kinder“ und einer „negativen Erziehung“, die allen „dogmatischen Festlegungen“ entgegenwirkt. Wird ein Kind, das in einer bestimmten religiösen Tradition erzogen wird, dadurch in seinem Bekenntnis „determiniert“? Die Realität beweist das Gegenteil: Es sind in unserer Gesellschaft nicht nur Ausnahmefälle, in denen sich Erwachsene von der Religion ihrer Kindheit abwenden. Sie sind also offensichtlich nicht durch ihre religiöse Erziehung zu einem Bekenntnis „determiniert“ worden.

Religiöse Traditionen wie die Konfirmation oder die Feier der Bar/Bat Mizwa fordern junge Erwachsene ausdrücklich dazu heraus, in ihrer inzwischen gewonnenen Freiheit und Mündigkeit selbst zu dem religiösen Bekenntnis Stellung zu nehmen, in dem sie erzogen worden sind. Selbst die religiös ziemlich konservativen Amischen räumen jungen Erwachsenen vor der Entscheidung, der Gemeinde beizutreten, eine Zeit des „Rumspringa“ ein, während der Eltern ihren Kindern viele Freiheiten einräumen, die nach dem Beitritt nicht mehr geduldet würden.

Umgekehrt kann man fragen, ob eine „religiös neutrale“ Erziehung Kinder nicht bereits in dem Sinne religiös „determiniert“, dass ihnen vermittelt wird, Religion sei etwas Unwichtiges, auf das man auch gut verzichten könne. Man kann ja wohl kaum vernünftigerweise von Eltern fordern, dass sie ihre eigenen religiösen Überzeugungen vor ihren Kindern verbergen.

Was man fordern kann und muss, ist, dass heranwachsende Kinder ihrer geistigen und moralischen Reife entsprechend die Freiheit und Gelegenheit haben sollen, sich zu entscheiden, wie sie sich zu den Traditionen verhalten wollen, in denen sie erzogen worden sind. Um sich in dieser Weise frei und mündig gegenüber religiösen (aber auch un- oder antireligiösen) Traditionen verhalten zu können, ist es aber durchaus hilfreich, sie erst einmal gründlich kennen gelernt zu haben.

All dies spricht nicht für eine möglichst religions- und bekenntnis-lose Erziehung, sondern für eine religiöse Erziehung, die auf Freiheit und Mündigkeit zielt und deshalb nicht irreversibel ist. Man kann seine Taufe als Kind später nicht einfach rückgängig machen, aber man kann sich davon lossagen oder sie stillschweigend ignorieren. Bei der Beschneidung scheint die Sache nicht ganz so einfach zu sein. Aber auch psychische Prägungen durch frühe Kindheitserfahrungen sind oft nicht so einfach loszuwerden.

Dass Eltern ihre Kinder beeinflussen, ist wohl kaum zu vermeiden - und es zu vermeiden, wäre wohl auch gar nicht wünschenswert. Eine solche Beeinflussung findet ja nicht nur auf dem Gebiet der Religion statt, sondern z.B. auch hinsichtlich der Sprache, der Kultur und der Moral, die Eltern ihren Kindern vermitteln. Auf dem Gebiet der Moral würde man wohl kaum für ein „Prinzip Aufschub“ plädieren: Weil erwachsene Menschen sich nicht aus Zwang, sondern aus freier Einsicht moralisch verhalten sollen, sollte man Kindern möglichst wenig Moral beibringen, um sie nicht „dogmatisch“ auf eine bestimmte Moral festzulegen und sie so moralisch zu „determinieren“. Im Gegenteil wird man Kindern zunächst relativ einfache und leicht fassliche Moralvorstellungen zu vemitteln versuchen, um sie dann später, wenn sie älter und reifer werden, an einen reflektierten und kritischen Umgang mit moralischen Vorstellungen heranzuführen und zu selbständiger und mündiger moralischer Urteilsbildung anzuleiten.

Eine solche moralische Erziehung kann schiefgehen, es kann sein, dass Eltern damit überfordert sind. Deshalb sollten sie durch öffentliche Bildungsinstitutionen darin unterstützt werden, was aber ebenfalls keinen Erfolg garantieren kann. Trotzdem kämen wir wohl kaum auf die Idee, wegen dieser Risiken einen Aufschub moralischer Erziehung zu fordern. Warum sollte es auf dem Gebiet der Religion grundsätzlich anders sein?