2.9.12

Beschneidung und religiöser Dialog


Das Landgericht Köln hat bekanntlich in einem Urteil vom 7. Mai 2012 festgestellt, dass eine Beschneidung von Minderjährigen aus religiösen Motiven eine rechtswidrige Körperverletzung darstellt. Es hat das Grundrecht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit in diesem Fall wegen der Endgültigkeit des Eingriffes höher gewichtet als das Erziehungsrecht der Eltern und deren Religionsfreiheit. Außerdem nimmt die Beschneidung nach Ansicht des Gerichts dem Kind die Freiheit, später selbst über seine Religionszugehörigkeit entscheiden zu können.* Man kann also nicht einfach sagen, das Gericht habe die Religionsfreiheit eingeschränkt. Es hat - unter anderem - die Religionsfreiheit der Eltern zugunsten der Religionsfreiheit ihrer unmündigen Kinder eingeschränkt.

Das Urteil zeigt exemplarisch, wie schwer es im Fall der Beschneidung unmündiger Knaben ist, zwischen Elternrechten, der Religionsfreiheit der Eltern, der ihrer Kinder und dem Recht auf körperliche Unversehrtheit abzuwägen. Man muss die Ansicht des Landgerichts Köln nicht teilen und kann sein Urteil mit Gründen kritisieren - es plakativ als dramatischen und unsensiblen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der jüdischen und muslimischen Religionsgemeinschaften in Deutschland anzuprangern, wird dem Gewicht des Problems genauso wenig gerecht wie der Schwierigkeit, es zu lösen.

In der schweizer Kirchenzeitung "reformiert" (Nr. 9.1/September 2012, S.3)** hat der reformierte züricher Kirchenratspräsident kürzlich vor "christlichem Imperialismus" gewarnt: "... sollen die Reformierten, die die Religion als etwas Wandelbares auffassen, Juden und Muslime auffordern, ihre Riten der Moderne anzupassen? Nein, sagt Müller und warnt vor einem 'christlichen Imperialismus', der nur noch durch den 'atheistischen Imperialismus' übertroffen werden könne. Zwang dürfe nicht an die Stelle von Dialog treten. Die reformierte Kirche setze sich, so Müller, für die Religionsfreiheit ein und damit 'auch für das Recht, Religion mit Riten auszugestalten, die uns vielleicht fremd sind'. Gegen Bannerträger der Moderne wie der [sic!] Strafrechtsprofessor Martin Killias argumentiert Müller: 'Es gibt gerade in der Moderne ein Recht, über einen Sinngehalt nachzudenken, der hinter die Grundvoraussetzungen der Moderne zurückgeht.'"


Michel Müller (Bild: zvg)

Was dieses auf den ersten Blick nicht gerade klare "Argument" austragen soll, ist mir allerdings nicht recht deutlich. Natürlich hat jeder und jede das Recht, über vormoderne Sinngehalte nachzudenken - was auch immer damit genau gemeint sein soll. (Ich vermute, dass Müller damit die Sinngehalte vormoderner Rituale wie der Beschneidung meint.) Es bestreitet ja auch niemand jüdischen und muslimischen Eltern, über mögliche Sinngehalte der Beschneidung nachzudenken - die Frage ist, ob es ein Recht gibt, solche Rituale an wehrlosen und zustimmungsunfähigen Kindern durchzuführen.

Dass Religionen ein Recht haben, fremdartige Riten zu praktizieren, mag man Müller zugestehen. Aber er wird doch wohl kaum ernsthaft bestreiten wollen, dass es Grenzen dieses Rechtes gibt. Man muss hier gar nicht an Dinge wie Menschenopfer oder rituelle Vergewaltigung denken. Wie steht es mit der religiös legitimierten Verheiratung von Kindern durch ihre Eltern? Oder religiös bedingten Forderungen einer Unterordnung von Frauen unter ihre Männer? Dürfen Eltern aus ihre Kinder aus religiösen Gründen von einer "weltlichen" Schulbildung fernhalten? Dürfen Eltern aus religiösen Gründen Bluttransfusionen für ihre Kinder verweigern?

Müller wird doch nicht im Ernst meinen, all dies sei durch ein Recht der Religionen auf fremdartige Riten und vormoderne Sinngehalte legitimiert. Wenn es ein solches Recht gibt, ist die Frage, wo seine Grenzen sind - und dieser Frage weicht Kirchenratspräsident Müller mit seinen nicht wirklich durchdachten Äußerungen mehr oder weniger geschickt aus. An die Stelle des Arguments tritt bei ihm am Ende die Rhetorik: Er nennt die Beschneidung einen "kleinen Schnitt". Ob sie so harmlos ist, ist aber gerade die Frage.

Martin Killias (Bild: zvg)

Erheblich durchdachter - und interessanterweise im Gegensatz zum Kirchenratspräsidenten auch mit theologischen Überlegungen - äußert sich demgegenüber der züricher Strafrechtsprofessor Martin Killias (der auch in der reformierten Kirche engagiert ist). Er kritisiert, dass bei einer Argumentation wie der von Michel Müller vorgetragenen "die Religionsfreiheit über die Rechte des Kindes gestellt wird. Dabei geht es um einen problematischen Begriff der Religionsfreiheit, verstanden nämlich als die Freiheit, die Menschenrechte des Kindes zu relativieren. Dass die Reformierten hier mitmarschieren, erstaunt mich", sagt Killias, "denn im 19. Jahrhundert standen sie an der Seite derer, die die laizistische Gesellschaft errichtet und genau diese Art von 'Religionsfreiheit' bekämpft haben. Als Konfession, der wir die offene und freie Gesellschaft weitgehend verdanken, sollten die Reformierten dazu beitragen, dass eine ernsthafte Diskussion über die Beschneidung und andere Traditionen innerhalb der betroffenen Religionsgemeinschaften in Gang kommt."

"Religionsfreiheit", meint Killias weiter, "ist in erster Linie die Freiheit, eine Religionsgemeinschaft zu verlassen und sich gegebenenfalls einer anderen anzuschließen - in vielen Ländern steht darauf die Todesstrafe. Allerdings wird sie immer mehr zum Vehikel, um Praktiken zu verteidigen, die den Wertvorstellungen unserer Gesellschaft widersprechen."

Auf die Frage, ob sich die reformierte Kirche seiner Meinung nach zu wenig von anderen Religionen absetze und zu stark als deren Anwältin auftrete, antwortet Killias: "Genau das ist meine Sorge. Sie hilft damit auch den anderen Religionsgemeinschaften nicht. Ein solidarischer Diskurs bedeutet, dass man die eigenen Wertvorstellungen verteidigt und sich mitunter auch Kritik erlaubt. Ich bin optimistisch, dass Religionsgemeinschaften sich modernen Wertvorstellungen anpassen können - das beste Beispiel ist die katholische Kirche. Vor 150 Jahren war sie gegen die Zivilehe, Mischehe, die öffentliche Schule und für die Todesstrafe. Dass sie von diesen Positionen abrückte, war die Folge davon, dass die Reformierten und Liberalen sich konsequent für den Vorrang der Menschenrechte eingesetzt haben.“

Als Strafrechtler plädiert Killias dafür, die Beschneidung als Körperverletzung zu ahnden: "Dass das Entfernen der Vorhaut eine Körperverletzung ist, kann man nicht ernsthaft bestreiten. Unsere Rechtsprechung betrachtet auch Impfungen ohne Zustimmung des Betroffenen als Körperverletzung. Wenn Einzelne die Beschneidung mit einer Schönheitsoperation gleichsetzen oder mit medizinischen Vorteilen rechtfertigen, wäre ein Aufschub auf das Alter der religiösen Mündigkeit mit sechzehn Jahren angezeigt." Dabei geht es Killias ausdrücklich nicht darum, all denen den Prozess zu machen, die kleine Kinder beschneiden. "Das Strafrecht setzt aber Wertmaßstäbe und hat Einfluss auf die künftige Entwicklung der Gesellschaft." Diese müsse das Kölner Urteil zum Anlass nehmen, nun vertieft "über die bisher tabuisierte Knabenbeschneidung nachzudenken".

Dabei hält es Killias für denkbar - und offenbar auch für wünschenswert - dass sich im Judentum und im Islam die Haltung zum Ritual der Beschneidung und der Umgang damit ändert: "... wäre es nicht denkbar, Kompromisse einzugehen? Etwa, indem bestimmte Handlungen symbolisch vorgenommen werden? Die katholische Kirche zum Beispiel hat sich doch auch dramatisch gewandelt! Wieso soll beim Thema Beschneidungen ein gangbarer Weg ausgeschlossen sein? Auch im Islam und im Judentum kann man hoffen, dass sich langfristig Formen von Religiosität entwickeln werden, die eine Koexistenz mit den Werten unserer Gesellschaft ermöglichen."

Als "christlichen Imperialismus" kann man diese Haltung nicht im Ernst bezeichnen. Es gehört ja wohl auch zur Freiheit einer Religion - hier der Reformierten Kirche – mit anderen Religionen in ein kritisches Gespräch einzutreten, solange man seinem Gesprächspartner mit Respekt und Toleranz begegnet und sich auch selbst der Kritik stellt. Das christlich-jüdische Gespräch ist - besonders im deutschsprachigen Raum – belastet durch die Shoa und eine lange, weiter zurückreichende Geschichte eines christlichen Antisemitismus. Diese Geschichte verpflichtet Christen heute zu besonderem Respekt vor dem Judentum und zu einer besonderen Sensibilität gegenüber religiöser Intoleranz. Sie verbietet aber nicht jegliche kritische Auseinandersetzung mit dem Judentum aus christlicher Perspektive. Hinzu kommt, dass es eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen den verschiedenen Konfessionen oder Richtungen innerhalb des Judentums und des Christentums gibt, wobei Grenzlinien oftmals quer durch beide Religionen verlaufen.

So werden sich Liberale Juden und Christen gegenüber ihren orthodoxen bzw. fundamentalistischen Religionsgenossinnen und -genossen darin einig sein, dass die Bibel nicht einfach "Gottes Wort" ist, sondern historisch-kritisch betrachtet werden muss. Das gilt natürlich auch für das an Abraham ergangene Gebot der Beschneidung in Genesis 17. In der Forschung ist es umstritten, ob Abraham eine historische oder eine rein legendarische Gestalt ist, wobei die neuere Forschung u.a. aufgrund der vielen Anachronismen in der Überlieferung mehrheitlich zu letzterem tendiert. Weitgehende Übereinstimmung besteht auch darin, dass die Erzählung Genesis 17 nicht in der Zeit entstanden ist, in der sie spielt (das wäre etwa die Mitte des 2. Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung), sondern wesentlich später, zur Zeit des babylonischen Exils oder kurz danach, d.h. im 6. oder 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung). Erst in dieser Zeit wurde die Beschneidung zum Zeichen des Bundes zwischen Abraham und seinen Nachkommen und dem Gott Jahwe - wobei auch Ismael, der legendarische Ahnherr der arabischen Stämme, beschnitten wurde.

Genesis 17 reagiert mit diesem "Beschneidungs-Bund" auf eine ältere theologische Konzeption des "Gesetzes-Bundes", die in Exodus 19-24 und im Buch Deuteronomium vorliegt. Danach besteht der Bund zwischen Jahwe und Israel darin, dass Israel die ihm von Mose übermittelten göttlichen Gesetze befolgt und Jahwe es dafür segnet. Wenn Israel die Gesetze nicht befolgt, bricht es den Bund und bringt den Fluch Jahwes über sich. Die Bücher der Könige deuten den Untergang der Staaten Israel (722) und Juda (587) als Strafe Gottes für sein Volk, das den Bund mit ihm gebrochen hat. Damit war die Verbindung zwischen Jahwe und Israel aufgelöst. Man konnte allenfalls darauf hoffen, dass Jahwe mit Israel einen neuen Bund schließen würde (so z.B. Jeremia 31), so wie er einst schon am Sinai den von den Israeliten mit ihrem "Tanz ums goldene Kalb" gebrochenen Bund erneuert hatte (Exodus 32-34), wie man sich nun zu erzählen wusste.

Hier setzt Genesis 17 an und sagt: Auch wenn der "Gesetzes-Bund" gebrochen ist, gibt es doch noch einen älteren und grundlegenderen Bund, eben den "Beschneidungs-Bund" mit Abraham. Dieser Bund forderte von den Nachkommen Abrahams nur, dass sie ihre männlichen Kinder an deren achten Lebenstag beschneiden. Als Genesis 17 verfasst wurde, war dies allem Anschein nach eine allgemein anerkannte, selbstverständliche kulturelle Praxis. Nicht nur die Israeliten beschnitten damals ihre Kinder, sondern auch die Ägypter, die Edomiter, Moabiter und Ammoniter, und wie es scheint auch schon die vorisraelitischen Bewohner Kanaans seit der Steinzeit. Indem Genesis 17 einen solchen weit verbreiteten und selbstverständlichen Brauch zum Bundeszeichen stilisiert, kann der Text einen Bund zwischen Jahwe und Israel konstruieren, der von der Übertretung des göttlichen Gesetzes nicht tangiert wurde und deshalb in der Katastrophe Israels und Judas Hoffnung auf eine heilvolle Zukunft machen konnte.

Diese Antwort auf die Frage nach der Zukunft in der Katastrophe scheint nicht unumstritten gewesen zu sein. Nach Deuteronomium 29 und 30 z.B. genügt es nicht, dass die männlichen Israeliten beschnitten sind - davon ist in diesem Text gar nicht die Rede. Vielmehr ist es nötig, dass Jahwe den Israeliten das Herz beschneidet - also das Organ des Nachdenkens, Empfindens und moralischen Urteilens (Deuteronomium 30,6). Erst dann wird Israel Jahwe lieben und seine Gebote erfüllen können. 

Gegenüber der in der Forschung so genannten "priesterlichen" Theologie in Genesis 17 und anderen Texten des Pentateuch, die großen Wert auf die körperliche Beschneidung legen, scheinen die sog. "deuteronomistischen" Aussagen über eine Beschneidung der Herzen (vgl. auch Deuteronomium 10,16; Jeremia 4,4) mehr Wert auf die innere Einstellung zu legen. In diese Richtung scheint auch Jesaja 56 zu gehen, wo auch "Verschnittenen", die sich gar nicht beschneiden lassen können, ein Denkmal und ein Name (hebr. yad wa-schem) im Haus Gottes zugesagt werden, wenn sie nur den Sabbat halten, den Willen Gottes erfüllen und am Bund mit ihm festhalten. Hier zeichnet sich zumindest die Möglichkeit ab, ohne Beschneidung zu Israel zu gehören.

Macht man sich diese Diskussion in der Bibel klar, verliert die Forderung der Beschneidung in Genesis 17 ihren scheinbar unumstößlichen Charakter und wird zu einem Modell der Identität Israels, das in einer bestimmten Situation historisch entstanden ist und in diesem Kontext verständlich ist, aber nicht unbedingt für alle Zeiten Gültigkeit haben muss.

Dass Traditionen immer wieder kritisch zu prüfen und gegebenenfalls auch zu ändern sind, ist eine Einsicht, die in der Hebräischen Bibel mit einigem Gewicht sowohl von den Propheten (vgl. nur Jesaja 1, Jeremia 7 oder Ezechiel 18 und 20) als auch von den Weiheitslehrern (Kohelet!) entwickelt und vertreten wird. Religiös motivierte Kinderopfer werden im Zuge der Entwicklung der Hebräischen Bibel zunehmend kritischer betrachtet und am Ende abgelehnt (vgl. Richter 11, Genesis 22, und dann Jeremia 7,31; Deuteronomium 12,31). Ebenso abgelehnt werden Eingriffe in die Integrität des Körpers durch Rasur, Einschnitte und Tätowierungen (Leviticus 19,27f). Ist es plausibel, dass ein Gott, dem all dies ein Greuel ist, darauf besteht, dass alle männlichen Angehörigen seines Volkes als Säuglinge beschnitten werden müssen?

Aus meiner Sicht ist das genauso wenig plausibel wie die Annahme, dass ungetaufte Säuglinge ins Fegefeuer kommen, oder dass Menschen unbedingt rituell getauft werden müssen, um als Mitglieder der Kirche akzeptiert werden zu können. Von daher ist es auch theologisch konsequent, dass die züricher reformierte Kirche im 19. Jahrhundert den Taufzwang abgeschafft hat. Vielleicht wäre eine ähnliche Entwicklung ja auch im Blick auf die Beschneidung zumindest für liberale Juden und Muslime denkbar.

Hinzu kommt, dass damit auch eine Diskriminierung weiblicher Kinder beseitigt werden könnte. Im liberalen Judentum hat man deshalb bereits "Lebensbund"-Zeremonien für Mädchen in Analogie zum "Beschneidungsbund" der Knaben entwickelt, die naturgemäß ohne chirurgische Manipulationen am Körper des Kindes auskommen. Ließe sich dies vielleicht auch auf die Knaben übertragen? (Vgl. den Vorschlag einer "Friedensbund"-Zeremonie.***)

All dies sind Überlegungen, die zumindest von liberalen Juden vielleicht nachvollzogen oder auf andere Weise weiter entwickelt werden können. Die hier skizzierten Anregungen sind jedenfalls nicht als "christlicher Imperialismus" gemeint, sondern als Beitrag zu einem interreligiösen Gespräch. Immerhin hat Abraham Geiger als ein berühmter Vertreter des deutschen Reformjudentums schon im 19. Jahrhundert die Beschneidung als einen "barbarischen und blutigen Akt" bezeichnet - dann allerdings doch um der Einheit des Judentums willen an dieser Tradition festgehalten.

die Pressemitteilung des Gerichts hier: