30.9.12

Wahre Demut

Und Gott sprach: Es sollen Lichter werden an der Feste des Himmels, Tag und Nacht zu scheiden, und sie sollen als Zeichen dienen und zur Bestimmung von Zeiten, Tagen und Jahren, und sie seien Lichter an der Feste des Himmels, dass sie auf die Erde leuchten! Und es geschah also. Gott machte die zwei groβen Lichter: das gröβere Licht, dass es den Tag beherrsche, und das kleinere Licht, dass es die Nacht beherrsche, dazu auch die Sterne. Und Gott setzte sie an die Feste des Himmels, dass sie auf die Erde leuchten und Tag und Nacht beherrschen und Licht und Finsternis scheiden... (Genesis 1,14-18)

Im Talmud (bChullin 60b) wird (von Rabbi Schim'on ben Pazi) auf den (scheinbaren) Widerspruch hingewiesen, dass es zuerst heiβt: Gott machte die zwei groβen Lichter, und dann: das groβe Licht ... und das kleine Licht. (Im Hebräischen steht dasselbe Wort für groβ und für gröβer (bzw. für klein und für kleiner.) Dieser Widerspruch wird durch die folgende kleine Erzählung erklärt: Der Mond - der, wie hier stillschweigend vorausgesetzt wird, zunächst gleich groβ wie die Sonne geschaffen worden war - sprach vor dem Heiligen, gepriesen sei er: Herr der Welt, ist es denn angängig, dass zwei Könige sich einer Krone bedienen? Der Mond bezweifelt also, dass es möglich ist, dass zwei Gestirne, die Sonne und er selbst, gemeinsam die Herrschaft ausüben. Daraufhin wird er von Gott bestraft, indem er verkleinert und so der Sonne nachgestellt und untergeordnet wird: Er erwiderte ihm: Geh und vermindere dich! 

Von den Auslegern wird das meist so verstanden, dass der Mond die Herrschaft für sich allein beansprucht und für diesen Hochmut von Gott bestraft wird. Andere sehen in der Verkleinerung des Mondes weniger eine Strafe für dessen Hochmut als vielmehr eine Belohnung für die Demut der Sonne, die sich die Beschwerde des Mondes anhörte, ohne darauf zu antworten und ihre eigenen Interessen zu vertreten. Die Geschichte würde demnach illustrieren, dass Gott bei seinen Geschöpfen Hochmut bestraft, Demut (oder Bescheidenheit) aber belohnt.

Angesichts dessen ruft der erste Petrusbrief (Kap. 5, V. 5-6) seine Leserschaft auf: Haltet fest an der Demut, denn Gott widersteht den Hochmütigen, aber den Demütigen gibt er Gnade. So demütigt euch nun unter die gewaltige Hand Gottes, damit er euch erhöhe zu seiner Zeit. - Man muss sich allerdings fragen, ob auf diese Weise nicht wahre Demut, echte Bescheidenheit, korrumpiert wird, indem sie ein Mittel zu dem Zweck wird, gerade nicht auf etwas zu verzichten und hinter anderen zurück zu stehen, sondern am Ende mehr zu bekommen und höher gestellt zu werden. Wenn man weiβ, dass Gott Hochmut bestraft und Demut belohnt, müsste dann nicht eine wahrhaft demütige Person hochmütig auftreten, um effektiv erniedrigt und nicht erhöht zu werden? Oder ist eine solche Denkweise einem wahrhaft demütigen Menschen völlig fremd, so dass er oder sie gar nicht in die Versuchung kommt, seine bzw. ihre Demut als Mittel zum Zweck einsetzen zu wollen?

Die oben zitierte Erzählung aus dem Talmud (bChullin 60b) geht folgendermaβen weiter: Der Mond sagte zu Gott: Herr der Welt, soll ich mich deshalb vermindern, weil ich vor dir eine richtige Sache gesprochen habe? Der Mond beharrt also darauf, dass er Recht hatte: Zwei Könige können sich nicht eine Krone teilen. Nur einer kann über Tag und Nacht herrschen, entweder die Sonne oder der Mond. Hat nicht Gott selbst das bestätigt, indem er die Sonne über den Mond erhöht hat?

Gott antwortet dem Mond: So geh und herrsche bei Tag und bei Nacht. Er gibt dem Mond Recht und befördert ihn zum König über Tag und Nacht - und stellt ihn damit über die Sonne. Der Mond aber lehnt das ab mit den Worten: Was ist dies für ein Vorzug? Was nützt eine Leuchte am Mittag? Nachdem der Mond zum kleineren Licht degradiert worden ist, kann er nicht mehr so kraftvoll die Welt erhellen wie die Sonne, sondern nur noch deren Glanz in schwächerer Gestalt widerspiegeln. - Man könnte diese Einsicht des Mondes in seine eigenen Grenzen durchaus als ein Zeichen seiner (neuen, aus der Erfahrung erlernten?) Bescheidenheit oder Demut interpretieren.

Das eindrucksvollste Beispiel für wahre Demut gibt aber Gott selbst: Er bestimmt, dass an jedem Neumondstag zusätzlich zu den täglichen Opfern dem Herrn (bzw. für den Herrn) ein Ziegenbock als Sündopfer dargebracht werden soll (Numeri 28,15). Und er erklärt dies folgendermaβen: Dieser Bock soll mir Sühne schaffen dafür, dass ich den Mond verkleinert habe.

Gott gibt also dem Mond Recht, der sich über seine Verkleinerung beschwert, und gibt zu, damit einen Fehler gemacht, eine Sünde begangen zu haben, die durch eine Opfergabe - an Gott! - gesühnt werden muss. - Ein Gott, der eigene Fehler zugibt und dafür Sühne leistet: gibt es ein besseres Beispiel für wahre Demut?