Darf Gott sich in
die Politik einmischen? Der Papst meint: „Ja!“ Die Zeit sagt: „Nein!“ (Nr. 49
vom 29. November 2012) Schon vor zweieinhalbtausend Jahren war diese Frage
umstritten. Damals wie heute ging es nicht nur darum, ob Gott sich einmischen
darf, sondern auch (und vor allem) darum, welche Ansichten er vertreten darf.
Interessanterweise scheint der Konflikt damals nicht einer zwischen „Kirche“
und „Staat“ gewesen zu sein. Vielmehr verliefen die Fronten quer durch „Kirche“
und „Staat“.
In der Hebräischen
Bibel, im Buch des Propheten Jeremia (Kapitel 26), wird berichtet:
Im Anfang der Regierung Jojakims, des Sohnes
Joschijas, des Königs von Juda, erging von Jahwe (dem Gott der Israeliten und
Judäer) dieses Wort: So spricht Jahwe (zu Jeremia, seinem Propheten): Stell
dich in den Vorhof des Hauses Jahwes (des Tempels in Jerusalem) und sag zu den
Leuten, die aus allen Städten Judas kommen, um im Haus Jahwes anzubeten, alles,
was ich dir ihnen zu verkünden aufgetragen habe; kein Wort sollst du weglassen.
Vielleicht hören sie und kehren um, jeder von seinem bösen Weg, sodass mich das
Unheil reut, das ich ihnen wegen ihrer schlechten Taten zugedacht habe.
Sag also zu ihnen: So spricht Jahwe: Wenn ihr
nicht auf mein Wort hört und meiner Weisung nicht folgt, die ich euch gegeben
habe, wenn ihr nicht auf die Worte meiner Knechte, der Propheten, hört, die ich
immer wieder zu euch sende, obwohl ihr nicht hört, dann verfahre ich mit diesem
Haus wie mit Schilo (dessen Tempel schon vor langer Zeit zerstört wurde, vgl. 1.Samuel
1-6; Jeremia 7; Psalm 78) und mache diese Stadt zu einem Fluch bei allen
Völkern der Erde. Die Priester, die Propheten und das ganze Volk hörten, wie
Jeremia diese Worte vor dem Haus Jahwes vortrug.
Als Jeremia alles gesagt hatte, was er im
Auftrag Jahwes vor dem ganzen Volk zu verkünden hatte, ergriffen ihn die
Priester, die Propheten und alles Volk und schrien: Jetzt musst du sterben. Warum
weissagst du im Namen Jahwes: Wie Schilo wird es diesem Haus gehen und diese
Stadt wird verwüstet und entvölkert werden? Das ganze Volk rottete sich beim
Haus Jahwes um Jeremia zusammen.
Es sind die
Vertreter der Religion (die Priester und die Propheten) und die grosse Masse
der religiösen Menschen („alles Volk“), die sich über das aufregen, was Jahwe
ihnen durch seinen Propheten Jeremia sagt: So kann Gott doch nicht mit uns
reden! Jahwe kann doch nicht einfach seinen Tempel (sein „Haus“), seine Stadt
(Jerusalem) und sein Volk aufgeben und zerstören. Ein Gott soll den Menschen
Sinn und Geborgenheit vermitteln, nicht ihnen Angst machen und Zweifel in ihnen
wecken, ob sie richtig leben.
Anders sehen die
Sache die Vertreter des Staates, die „Beamten Judas“:
Als die Beamten Judas von diesen Vorgängen
hörten, gingen sie vom Königspalast zum Haus Jahwes hinauf und setzten sich am
Eingang des Neuen Tempeltors nieder. Die Priester und Propheten sagten zu den
Beamten und zum ganzen Volk: Dieser Mann hat den Tod verdient; denn er hat
gegen diese Stadt geweissagt, wie ihr mit eigenen Ohren gehört habt.
Jeremia aber erwiderte allen Beamten und dem
ganzen Volk: Jahwe hat mich gesandt, damit ich als Prophet gegen dieses Haus
und diese Stadt alle Worte verkünde, die ihr gehört habt. Nun also, bessert
euer Verhalten und euer Tun und hört auf die Stimme Jahwes, eures Gottes! Dann
wird Jahwe das Unheil reuen, das er euch angedroht hat. Ich selbst bin in eurer
Hand; macht mit mir, was ihr für gut und recht haltet. Aber das sollt ihr
wissen: Wenn ihr mich tötet, bringt ihr unschuldiges Blut über euch, über diese
Stadt und ihre Einwohner. Denn Jahwe hat mich wirklich zu euch gesandt, damit
ich euch alle diese Worte in die Ohren rufe.
Da sagten die Beamten und das ganze Volk zu
den Priestern und Propheten: Dieser Mann hat den Tod nicht verdient; denn er
hat zu uns im Namen Jahwes, unseres Gottes, geredet.
Während die
Vertreter der Religion genau zu wissen meinen, was Gott denkt und allenfalls
sagen kann, sind die Beamten des Staates dafür offen, dass Jahwe sich auch auf unerwartete
und überraschende Weise äussern kann. (Vielleicht ist es ihnen auch nur Recht,
wenn es im Volk verschiedene Ansichten darüber gibt, wie Gott die Verhältnisse
in Jerusalem beurteilt und was er in der nahen Zukunft zu tun gedenkt.) Dass
Jeremia im Namen Jahwes spricht, gibt ihm die Freiheit, auch unbequeme und
gefährliche Ansichten auszusprechen. Ob aus ihm wirklich Jahwe spricht, lassen
die Beamten offen.
Einige von den Ältesten des Landes standen
auf und sagten zu der ganzen Volksversammlung: Micha von Moreschet, der zur
Zeit Hiskijas, des Königs von Juda, als Prophet wirkte, hat zum ganzen Volk
Juda gesagt: So spricht Jahwe Zebaot: Zion wird umgepflügt zu Ackerland,
Jerusalem wird zum Trümmerhaufen, der Tempelberg zur überwucherten Höhe. Haben
ihn etwa Hiskija, der König von Juda, und ganz Juda deshalb hingerichtet? Hat
er nicht Gott gefürchtet und den Zorn Jahwes besänftigt, sodass Jahwe das
Unheil reute, das er ihnen angedroht hatte? Und wir sollten ein so großes
Unrecht tun zu unserem eigenen Schaden?
Die Ältesten,
Vertreter des Landadels, dessen politische Interessen nicht immer mit denen des
Königshofs übereinstimmten, scheinen Jeremias Mahnungen und Warnungen noch ernster
zu nehmen als die Beamten. Wie vor gut hundert Jahren zur Zeit des Hiskija,
sollten sich auch jetzt der König und seine Beamten die Warnungen des Propheten
zu Herzen nehmen und die von ihm im Namen Gottes angeprangerten Missstände
beseitigen, damit Gott das ihnen als Strafe angedrohte Unheil nicht kommen
lassen muss.
Dass nicht alle
Vertreter der Staatsmacht einer kritischen Prophetie im Namen Jahwes so aufgeschlossen
oder doch mindestens tolerant gegenüberstanden wie die Beamten Jerusalems und
die Ältesten Judas in dieser Geschichte, zeigt eine Begebenheit, von der direkt
im Anschluss daran berichtet wird:
Damals wirkte noch ein anderer Mann als
Prophet im Namen Jahwes, Urija, der Sohn Schemajas, aus Kirjat-Jearim. Er
weissagte gegen diese Stadt und dieses Land mit ganz ähnlichen Worten wie
Jeremia. Der König Jojakim, alle seine Heerführer und alle Beamten hörten von
seinen Reden. Daher suchte der König ihn zu töten. Als Urija davon erfuhr,
bekam er Angst, floh und gelangte nach Ägypten. Der König Jojakim aber schickte
Leute nach Ägypten, nämlich Elnatan, den Sohn Achbors, mit einigen Männern. Sie
holten Urija aus Ägypten und brachten ihn zu König Jojakim; dieser ließ ihn mit
dem Schwert erschlagen und seinen Leichnam zu den Gräbern des niedrigen Volkes
werfen. Ahikam jedoch, der Sohn Schafans, beschützte Jeremia, sodass man ihn
nicht dem Volk auslieferte, das ihn töten wollte.
Es ist
nachvollziehbar, dass der König als (vermeintlicher) Stellvertreter Gottes auf
Kritik im Namen Gottes deutlich empfindlicher reagierte als seine Beamten und
die Landältesten, die wahrscheinlich nicht immer und in jeder Hinsicht mit
ihrem Herrscher übereinstimmten. Insbesondere die Familie Schafan scheint mit
der Politik der letzten Könige Judas nicht einverstanden gewesen zu sein.
Heute wird darüber
diskutiert, ob in politische Diskussionen auch religiöse Überzeugungen
eingebracht werden dürfen und sollen – mit der „Zeit“ gesprochen: Ob Gott sich
in die Politik einmischen darf oder nicht. Zur Zeit Jeremias scheint weniger
dies das Problem gewesen zu sein als die Frage, was Gottes Meinung zu aktuellen
politischen Fragen ist. Was Jeremia im Namen Gottes vorbrachte, war unbequem,
störte den gesellschaftlichen Konsens und stellte die Grundlagen der Kultur und
Politik kritisch in Frage. Deshalb versuchten die Vertreter der Religion, ihm
den Mund zu stopfen: So kann und darf Gott nicht reden!
Könnte es sein, dass
es auch heute nicht so sehr die Frage ist, ob politische Meinungen religiös
begründet werden oder nicht, sondern welche Meinungen es sind, die – mit oder
ohne religiöse „Verpackung“ – vertreten werden? Sind politische Voten mit
religiösem Hintergrund vielleicht oft deshalb unerwünscht, weil sie quer zum
politischen und kulturellen Mainstream stehen und scheinbare
Selbstverständlichkeiten und unumstössliche Wahrheiten (Pluralismus,
Menschenwürde, Marktwirtschaft …) kritisch in Frage stellen oder auch nur relativieren? Nicht nur „die
Religion(en)“ vertreten ja „absolute Wahrheiten“ (wobei die aufgeklärteren
unter ihnen schon längst ein Bewusstsein der Relativität dieser absoluten
Wahrheiten entwickelt haben), sondern auch „die pluralistische Demokratie“ (man
denke nur an die unumstösslichen und indiskutablen Menschenrechte).
Sind religiös grundierte Ansichten vielleicht auch deshalb heute so unbequem, weil sie ein Wissen darum wachhalten, dass wir mit unseren politischen Entscheidungen einen Teil unserer Welt und unseres Lebens gestalten können, dass es aber nicht von formalen Mehrheitsentscheiden abhängt, wie unsere Welt und unser Leben sich verändert, dass es richtige und falsche, kluge und weniger kluge politische Entscheidungen gibt – auch wenn wir oft nicht genau wissen, welche Entscheidungen die klügsten und besten sind? Eine gut funktionierende Demokratie, die für eine möglichst hohe Bildung aller Beteiligten besorgt ist, wird vermutlich (bzw. hoffentlich) die relativ besten Entscheidungen treffen – solange sie sich darüber im Klaren ist, dass es nicht darum geht, seine Wünsche oder Interessen in politischen Entscheidungen durchzusetzen, sondern darum, möglichst kluge und richtige Entscheidungen zu treffen, die moralisch vertretbar sind und sich in der Wirklichkeit bewähren (Jeremia hätte gesagt: die im Sinne Gottes sind).
Warum soll es dem
Papst nicht gestattet sein, dafür zu werben, die Politik an den Zehn Geboten
auszurichten – solange er dabei keine Gewalt anwendet, sondern um demokratische
Mehrheiten wirbt, deren Entscheidungen durch neue Mehrheitsentscheide
revidierbar bleiben? Will er eine Mehrheit überzeugen, kann sich auch der Papst
nicht mehr einfach auf göttliche Offenbarungen berufen, sondern muss vernünftig
darlegen, was für seine Meinung spricht. (Dass – vermeintliche – göttliche Offenbarungen
eo ipso nichts Vernünftiges enthalten können, ist ein wenig plausibles
Vorurteil.) Wäre es nicht
besser, die Religionen (und ihre Götter) an politischen Diskussionen mitwirken
zu lassen und damit auch zu ihrer vernünftigen Selbstreflexion beizutragen, als
sie daraus auszuschliessen und damit in eine diffuse Subkultur abzudrängen?
Vielleicht haben sie uns ja Dinge zu sagen, die zumindest bedenkenswert sind –
so wie einst Micha, Jeremia und Urija.