24.12.17

Simeon


Aert de Gelder - Het loflied van Simeon (ca. 1700-1710)


... Und da war in Jerusalem einer mit Namen Simeon, und dieser Mann war gerecht und gottesfürchtig; er wartete auf den Trost Israels, und heiliger Geist ruhte auf ihm. Ihm war vom heiligen Geist geweissagt worden, er werde den Tod nicht schauen, bevor er den Gesalbten des Herrn gesehen habe. Nun kam er, vom Geist geführt, in den Tempel. Und als die Eltern das Kind Jesus hereinbrachten, um an ihm zu tun, was das Gesetz des Herrn vorschreibt, da nahm er es auf die Arme und pries Gott und sprach:

Nun lässt du deinen Diener gehen, Herr, 
in Frieden, wie du gesagt hast,
denn meine Augen haben das Heil gesehen,
das du vor den Augen aller Völker bereitet hast,
ein Licht zur Erleuchtung der Heiden 
und zur Verherrlichung deines Volkes Israel.

Und sein Vater und seine Mutter staunten über das, was über ihn gesagt wurde. Und Simeon segnete sie und sagte zu Maria, seiner Mutter: Dieser hier ist dazu bestimmt, viele in Israel zu Fall zu bringen und viele aufzurichten, und er wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird - ja, auch durch deine Seele wird ein Schwert dringen -, damit aus vielen Herzen die Gedanken offenbar werden ... 

(aus Lukas 1, Zürcher Bibel)


So wie die Erzählungen über die wunderbare Empfängnis und Geburt Jesu soll auch diese Geschichte zeigen, dass Jesus von Anfang an ein ganz besonderer Mensch war. Aber auch Simeon ist eine bemerkenswerte Persönlichkeit.

Es genügt ihm zu sehen, dass der "Gesalbte des Herrn", der Messias, geboren ist. Er ist damit zufrieden, dass er "das Heil gesehen" hat, das doch in diesem Baby allenfalls erst zu erahnen ist. Er bittet nicht darum, die Verwirklichung dieses Heils mitzuerleben. Vielleicht ist er schon zu alt, als dass er noch so lange leben könnte, bis dieses Kind erwachsen ist? Es genügt ihm zu wissen, dass das Heil kommen wird. Wie Mose sieht er das verheissene Land, kommt aber selbst nicht hinein. Aber er äussert kein Wort des Bedauerns darüber. Das Schicksal des Volkes Israel und der Gesamten Menschheit ist ihm wichtiger als sein eigenes Heil.

Und Simeon rechnet damit, dass der Messias kein Heil im Sinne von "Friede, Freude und Eierkuchen" bringen wird, sondern Veränderungen und Diskussionen auslösen wird, die durchaus auch schmerzhaft sein werden. Vielleicht wäre Simeon selbst überrascht, vielleicht sogar enttäuscht gewesen, wenn er miterlebt hätte, was aus dem Baby geworden ist, das er auf seinen Armen hatte. Kein grosser politischer Anführer und Befreier, sondern ein Lehrer der einfachen Leute, Exorzist und Wunderheiler, am Ende von den Römern hingerichtet als vermeintlicher Rebell.

Vielleicht hätte es Simeon ja gefallen, dass das Heil etwas anders kam, als er es sich erwartet hatte. Dass es ihm genügte, seine allerersten Anfänge mitzuerleben, dass ihm das Heil der Menschheit viel wichtiger war als sein eigenes Heil, das macht ihn zu einer eindrücklichen Nebenfigur in der Geschichte Jesu.

31.10.17

Drei Regeln - von Douglas Adams

1. Alles, was es schon gab, als du geboren wurdest, ist ganz normal.
2. Alles, was bis zu deinem 30. Lebensjahr erfunden wird, ist unglaublich aufregend und mit etwas Glück kannst du deine Karriere darauf aufbauen.
3. Alles, was danach erfunden wird, widerspricht der natürlichen Ordnung und bedeutet das Ende der Zivilisation, wie wir sie kennen - bis sich nach etwa zehn Jahren allmählich herausstellt, dass es eigentlich doch ganz in Ordnung ist.

Der Sinn des Lebens - von Monty Python

"Also, nun kommt der Sinn des Lebens. Nun, es ist wirklich nichts Besonderes. Versuch einfach, nett zu den Leuten zu sein, vermeide fettes Essen, lies ab und zu ein gutes Buch, lass Dich mal besuchen und versuch mit allen Rassen und Nationen in Frieden und Harmonie zu leben."

22.10.17

Erasmus von Rotterdam - ein Feminist?

War Erasmus ein Feminist?
          Den Anstoss zu diesen Überlegungen gab ein Artikel über "Die Frau in den 'Gesprächen' des Erasmus" von Dora Schmidt. Dieser Aufsatz ist 1945 in der "Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde" erschienen. Dora Schmidt (1895-1985) hat Nationalökonomie, Philologie, Geschichte und Staatsrecht studiert. 1926 wurde sie promoviert. Anschliessend hat sie als erste Frau in leitender Position in der Bundesverwaltung Karriere gemacht. Dann wechselte sie zur Schweizerischen Bankgesellschaft. Dora Schmidt war in der Frauenbewegung aktiv und gründete 1945 den Club der Berufs- und Geschäftsfrauen in Zürich. Bei der Vorbereitung dieser Zeilen habe ich ihren Aufsatz ausgiebig benutzt. Daneben die Übersetzung und Kommentierung einer Auswahl aus den "Vertraulichen Gesprächen" des Erasmus von Kurt Steinmann. Ich möchte das hier ausdrücklich erwähnen und mich nicht mit fremden Federn schmücken.
          In der Zeit vor Erasmus (1466-1536) wurden Frauen weitherum als geistig und sittlich minderwertig angesehen. Teilweise wurde darüber diskutiert, ob Frauen überhaupt eine Seele haben. Rechtlich, gesellschaftlich und familiär wurden die Frauen im Mittelalter in eine sehr untergeordnete Stellung gerückt. Es gab Ausnahmen, wie etwa die Verehrung der Frauen im höfischen Minnesang oder die Bewunderung gebildeter Frauen in der Oberschicht. Für die weit überwiegende Mehrzahl der Frauen sah das Leben aber anders aus.
          Thomas von Aquin war einer der bedeutendsten europäischen Theologen im Mittelalter. Er lehrte, dass Gott die Frau aus dem Mann geschaffen hat - mit dem einen und einzigen Zweck, dem Mann zu helfen. Die Schöpfung der Frau war eigentlich nur deshalb nötig, weil der Mann allein keine Kinder erzeugen kann. Dementsprechend besteht für eine Frau der Sinn und Zweck ihres Lebens darin, ihrem Mann Kinder zu gebären, ihm zu dienen und sich ihm unterzuordnen. Frauen steht es nicht zu zu lehren oder höhere kirchliche Weihen zu empfangen. In der römisch-katholischen Kirche geniesst Thomas von Aquin bis heute ein hohes Ansehen.
          Hält man sich diese damals weit verbreiteten Ansichten und Verhältnisse vor Augen, ist das, was Erasmus verschiedentlich über die Frauen gedacht und geschrieben hat, erstaunlich unkonventionell und zeugt von einem ausserordentlich kritischen und freien Geist. Ich möchte Ihnen dafür zwei Beispiele aus den "Vertraulichen Gesprächen" des Erasmus geben.
          Die "Vertraulichen Gespräche" waren eines der bekanntesten und berühmtesten Werke des Erasmus, ein Bestseller des sechzehnten Jahrhunderts. Eine Auswahl daraus ist in deutscher Übersetzung im Diogenes-Verlag als Taschenbuch erschienen in der Übersetzung von Kurt Steinmann. Eine ältere deutsche Übersetzung kann man im "Projekt Gutenberg" im Internet kostenlos lesen. Hauptzweck der "Colloquia Familiaria" - so der Titel des lateinischen Originals - war es, anhand beispielhafter Gespräche den Lateinschülern gute Formulierungen für den alltäglichen Gebrauch vorzuführen: Wie begrüsst man Freunde, wie erkundigt man sich nach jemandes Wohlbefinden, worüber unterhält man sich beim Essen u. dgl.? Zugleich sollten die Schüler und andere Leser aber auch zum Nachdenken über die besprochenen Themen angeregt werden. Die Form der Gespräche erlaubte es einem kritischen Geist wie Erasmus, gängige Vorurteile in Frage zu stellen und zu verspotten und neue Einsichten und Überlegungen zu formulieren, ohne sich selbst allzusehr zu exponieren und angreifbar zu machen - er konnte sich ja immer darauf zurückziehen, dass das, was die Teilnehmer diese Gespräche sagten, nicht der eigenen Meinung des Erasmus entspricht. In den Gesprächen liess Erasmus Schüler und Mönche, Soldaten und Kaufleute, Wirte und Bettler, Wallfahrer und Dirnen, Ehrenmänner und Gauner und viele andere Figuren aus dem zeitgenössischen Leben zu Wort kommen, Männer und Frauen.
          In einem der Gespräche trifft ein dummdreister Abt namens Antronius ("Höhlenmensch") auf eine gebildete Frau mit Namen Magdalia. Es wird vermutet, dass Erasmus die Figur der Magdalia nach dem Vorbild von Margaret Roper gestaltet hat, der ältesten und Lieblingstochter von Thomas Morus, die Erasmus in England kennengelernt hatte. Der Abt nimmt Anstoss daran, dass Magdalia in ihrer Wohnung viele Bücher hat. So etwas "schickt sich weder für ein Mädchen noch für eine verheiratete Frau", meint Antronius, und dies um so mehr, als es keine französisch geschriebenen Bücher sind, die Magdalia liest, sondern griechische und lateinische. Magdalia fragt ihn: "Vermitteln denn nur französisch geschriebene Bücher Bildung?" Darauf entgegnet Antronius: "Jedenfalls geziemen sich für vornehme Damen nur französische Bücher. Mit ihnen können sie sich köstlich die Zeit vertreiben." Magdalia: "Dürfen nur vornehme Damen Geist haben und ein angenehmes Leben führen?" Antronius: "Du bringst Dinge zusammen, die nichts miteinander zu tun haben: Verstand haben und ein angenehmes Leben führen. Frau und Geist, das schliesst sich aus. Ziel und Inhalt des Daseins vornehmer Frauen ist ein angenehmes Leben."
          Nun entspinnt sich eine Diskussion darüber, was ein angenehmes Leben sei. Magdalia ist der Meinung, "dass ein Mensch nur durch innere Werte glücklich ist. Reichtum, Ehre und Abstammung machen einen weder glücklich noch besser." Antronius dagegen versteht unter einem angenehmen Leben: "Schlafen, Gelage, die Freiheit zu tun, was man will, Geld und Ehren." Für Magdalia ist es angenehmer, "einen guten Autor zu lesen", als "zu jagen, zu saufen oder Würfel zu spielen". Für Antronius "wäre das kein Leben". "Die langen Gebete, die Sorge um den Haushalt, dann die Jagd, die Pferde, der Hofdienst", all das lässt dem Abt Antronius keine Zeit, Bücher zu lesen und sich zu bilden. Er möchte auch nicht, dass seine Mönche "ständig über den Büchern sitzen", weil sie "dann weniger gehorchen", und weil Antronius es hasst, wenn einer seiner Untergebenen mehr weiss als er.
          Völlig unpassend findet es Antronius, wenn Frauen Bücher lesen, um sich zu bilden. Die Geräte der Frau sind Spindel und Rocken, nicht Bücher. "Die Bücher rauben den Frauen viel von ihrer Hirnsubstanz, von der sie ohnehin zu wenig haben." Überhaupt bringt der "innige Umgang mit Büchern ... die Leute um den Verstand." Darauf entgegnet Magdalia: "Und dich bringt das Palaver mit den Saufbrüdern, Witzbolden und Hanswursten nicht um den Verstand?" Worauf Antronius erwidert: "O nein, das vertreibt die Langeweile." Als Andronius wenig später meint: "Ich möchte auf alle Fälle keine gelehrte Frau", antwortet Magdalia: "Ich hingegen beglückwünsche mich, dass ich einen Mann bekommen habe, der dir so gar nicht gleicht. Denn Bildung macht uns einander nur noch lieber."
          Gegen Ende des Gesprächs weist Magdalia darauf hin, dass es gebildete Frauen gibt, die den Männern nicht nachstehen: "Es gibt in Spanien und in Italien nicht wenige Frauen, namentlich unter den vornehmen, die es mit jedem Mann aufnehmen könnten. Es gibt in England solche im Hause Morus, in Deutschland in den Familien Pirckheimer und Blarer. Wenn ihr nicht auf der Hut seid, wird es noch so weit kommen, dass wir in den Theologenschulen den Vorsitz führen und in den Kirchen predigen. Wir werden eure Mitren an uns reissen ... Die Weltszene wandelt sich von Grund auf ..."
          Der Wandel der Weltszene, den Erasmus hier von einer Frau verkünden lässt, geht weit über das hinaus, was sich die Reformatoren seiner Zeit vorgestellt haben. Erasmus war aber nicht der einzige, der damals so "feministisch" gedacht hat. Im Anhang zu seiner deutschen Übersetzung des Dialogs weist Kurt Steinmann darauf hin, dass sich die Hauptthesen dieses Dialogs auch in einem etwa gleichzeitig erschienenen Werk des Spaniers Juan Luis Vives finden, das Erasmus stark beeinflusst habe. "Erasmus und Vives sind sich einig darin, dass Lernen keine moralischen Gefahren in sich birgt und häuslicher Eintracht nicht im Weg steht."
          Ein anderes der "Vertraulichen Gespräche" stellt uns die erste Zusammenkunft eines "Frauensenats" vor Augen. Er wird eröffnet mit der kämpferischen Rede einer Frau namens Cornelia. Sie ruft ihren Genossinnen zu: "Ihr alle wisst ..., wie abträglich es unseren Interessen ist, dass die Männer in täglichen Versammlungen ihre Geschäfte betreiben, wir aber beim Spinnrocken und Webstuhl sitzen und unsere Sache im Stich lassen müssen. So ist es dahin gekommen, dass wir überhaupt nicht solidarisch und organisiert sind und die Männer uns gewissermassen als Lustobjekte betrachten und kaum des Namens Mensch für würdig erachten. Wenn wir so weiterfahren, so könnt ihr euch selber ausrechnen, was schliesslich herauskommen wird ..."
          "Wenn die Frauen immer schweigen sollten", sagt Claudia, "wozu hat uns die Natur nicht minder schlagfertige Zungen verliehen als den Männern und eine nicht weniger wohlklingende Stimme? Ohnehin tönt die Stimme der Männer rauher und erinnert mehr an die Esel als die unsere ... Dürfte man ihre Sitzungen wahrheitsgetreu beurteilen, so würden sie uns mehr als weibisch vorkommen. Die Herrscher sehen wir schon seit so vielen Jahren nichts anderes tun als Krieg führen; zwischen den Theologen, Priestern, Bischöfen und dem Volk fehlt es völlig an Übereinstimmung: So viele Menschen, so viele Meinungen! Ihre Wankelmütigkeit ist mehr als weibisch. Keine Stadt verträgt sich mit der andern, kein Nachbar mit dem Nachbarn. Hätten wir die Zügel in der Hand, die Beziehungen unter den Menschen gestalteten sich wahrscheinlich bedeutend erträglicher."
          Eine andere Teilnehmerin, Katharina, nennt gegen Ende des Gesprächs einige "Punkte, die wir mit den Männern bereinigen müssen, die uns von allen Ämtern und Ehrenstellen ausschliessen und fast nur wie Waschweiber und Küchentrottel behandeln, selber aber alles nach eigenem Gutdünken regeln. Wir werden ihnen ... die Staatsämter und das Kriegswesen zugestehen. Ist es aber ... nicht mehr als recht, dass bei der Aussteuer der Kinder auch die Mutter mitbestimmen kann? Vielleicht werden wir auch duchsetzen, dass wir abwechselnd die Amtsgeschäfte führen, freilich uns beschränkend auf jene Aufgaben, die innerhalb der Stadtmauern und ohne Waffen gelöst werden können. Das sind die Kernpunkte, worüber zu beraten sich wohl die Mühe lohnt."
          Man sieht hier gut, dass auch ein Mensch wie Erasmus, der seiner Zeit weit voraus ist, indem er es für möglich hält, dass Frauen sich mit Männern in den Amtsgeschäften abwechseln, zugleich ein Kind seiner Zeit bleibt: Dass Frauen genauso wie Männer auch ausserhalb der Stadtmauern mit Waffen ihr Gemeinwesen verteidigen könnten, das kann sich Erasmus nicht vorstellen.
          Erasmus sieht, dass Frauen in der von Männern beherrschten Kultur seiner Zeit durchaus auch Vorteile gegenüber den Männern haben. So lässt er Cornelia sagen: "Wenn wir auch nicht wenig Ursache haben, uns mit Recht zu beklagen, so ist doch alles in allem unsere Lage komfortabler als die ihre. Um ein Vermögen zu erwerben, durcheilen sie, nicht ohne Gefahr für Leib und Leben, alle Länder und Meere; bricht ein Krieg aus, so ruft die Trompete sie ins Feld, und eisengepanzert stehen sie an der Front, während wir unbehelligt zu Hause sitzen. Begehen sie einen Rechtsbruch, so wird strenger gegen sie vorgegangen, unser Geschlecht wird eher geschont. Letzten Endes liegt es zum grossen Teil an uns, ob wir angenehme Ehemänner haben."
          Vielleicht sieht Erasmus hier die Lage der Frauen in seiner Zeit auch zu optimistisch - zumal er vor allem die vornehmen und besser gestellten Frauen im Blick hat. Heute jedenfalls leidet die Zivilbevölkerung, leiden Frauen und Kinder unter einem Krieg wohl nicht weniger als die kämpfende Truppe - zumal, wenn Distanzwaffen wie Bomben, Raketen oder ferngesteuerte Drohnen im Spiel sind. Aber auch zu Erasmus' Zeiten gab es schon Plünderungen und Vergewaltigungen im Krieg, von denen zuerst die Frauen betroffen waren.
          Im "Frauensenat" geht es nicht nur um die Rechte der Frauen gegenüber den Männern, sondern auch um die Rechte und Pflichten der Frauen untereinander, der alten und der jungen, der verheirateten und der unverheirateten, der vornehmen und der weniger vornehmen bis hin zu Prostituierten. Auch die Frage, welche Frauen sich ihrem Stand entsprechend wie zu kleiden haben spielen eine wichtige Rolle. Wenn wir das heute lesen, könnten wir meinen, Erasmus wolle sich hier augenzwinkernd über die Frauen lustig machen oder sie sogar dafür kritisieren, dass sie ihre Zeit und Energie auf solche eher nebensächlichen Probleme verschwenden. Kurt Steinmann weist aber im Kommentar zu seiner Übersetzung darauf hin, dass das wohl ein Missverständnis ist. Für Erasmus war die Gleichheit aller Menschen eine innere und absolute. Damit war eine äussere Rangordnung unter den Menschen für ihn durchaus vereinbar. Ausserdem waren Fragen der Mode, der Haartracht und exquisiter Materialien wichtige Punkte der Luxusgesetze, die im 15. und 16. Jahrhundert erlassen wurden um der Verschwendung, dem Prunk und der Eitelkeit Grenzen zu setzen. Erasmus war nicht der einzige, der in seiner Zeit die Eitelkeit der Frauen kritisierte - und er "hatte in seinem Leben einen vollständigen Wandel der Mode erlebt". Immerhin traute er es den Frauen zu, solche Dinge selber zu regeln, statt die Männer bestimmen zu lassen, wie sie sich zu kleiden und zu benehmen hatten.
          War Erasmus also ein Feminist? Das hängt davon ab, was man genau unter Feminismus versteht. Jedenfalls hat Erasmus einige kulturelle und religiöse Vorurteile gegenüber Frauen, die in seiner Zeit verbreitet waren, kritisiert und lächerlich gemacht, und er hat die Vorherrschaft der Männer in der Kirche und in der Politik grundsätzlich in Frage gestellt - im Geist des Humanismus, der Aufklärung - und damit auch des Christentums.

5.7.17

Zu billige Gnade?

Gottes Gnade ist nicht billig.
Sie ist teuer.
So teuer, dass kein Mensch sie sich leisten kann.
Deshalb verschenkt Gott sie.
Völlig umsonst!

7.5.17

Was Gott verbunden hat ...

Gedanken zu Markus 10,2-9

2 (Einmal) kamen Pharisäer zu (Jesus) und fragten: Darf ein Mann seine Frau aus der Ehe entlassen? Damit wollten sie ihm eine Falle stellen. 3 Er antwortete ihnen: Was hat euch Mose vorgeschrieben? 4 Sie sagten: Mose hat erlaubt, eine Scheidungsurkunde auszustellen und (die Frau) aus der Ehe zu entlassen. 5 Jesus entgegnete ihnen: Nur weil ihr so hartherzig seid, hat er euch dieses Gebot gegeben. 6 Am Anfang der Schöpfung aber hat Gott sie als Mann und Frau geschaffen. 7 Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen, 8 und die zwei werden ein Fleisch sein. Sie sind also nicht mehr zwei, sondern eins. 9 Was aber Gott verbunden hat, das soll der Mensch nicht trennen. (Einheitsübersetzung)

Dieser Text klingt heute wie eine Botschaft aus einer anderen, längst vergangenen Welt.

In der Schweiz werden heute von 100 geschlossenen Ehen mehr als 41 wieder geschieden (im Jahr 2000 waren es noch knapp 26, um 1900 etwa 5). Bei der Scheidung sind Paare heutzutage im Durchschnitt circa 15 Jahre verheiratet. Nur noch etwas mehr als die Hälfte der Ehepaare bleibt heute noch zusammen, bis der Tod sie scheidet.

Wie passt das, was Jesus über die Ehe und die Ehescheidung gesagt hat, in unsere heutige Zeit?

Wir lesen die Bibel heute nicht mehr als Wort Gottes, das zu allen Zeiten ohne Diskussion befolgt werden muss. Wir lesen die Bibel als eine Zusammenstellung von Geschichten und Gedanken, die für die ersten Christen wichtig waren und in denen sie Orientierung für ihr Leben und Zusammenleben gefunden haben.

Die Texte der Bibel sind Produkte ihrer Zeit und für ihre Zeit geschrieben. Sie wurden von den ersten Christen und der späteren Christenheit weiter überliefert, weil sie davon überzeugt waren, dass sie auch für spätere Zeiten interessant und wegweisend sein könnten.

In diesem Sinne lesen wir heute die Bibel ohne den Druck, alles gut finden zu müssen, was darin steht. Wir können und müssen uns kritisch mit der Bibel auseinandersetzen. Wir sollten uns aber auch selbst von der Bibel kritisch in Frage stellen lassen. Wir wissen heute manches besser als die Verfasser der Bibel. Das schliesst aber nicht aus, dass wir vor manchen Erfahrungen und Fragen immer noch genau so ratlos stehen wie die biblischen Autoren und dass wir vielleicht sogar in manchen Punkten auch hinter Einsichten zurückgefallen sind, die in der Bibel schon einmal klar formuliert und festgehalten wurden.

In unserem Predigttext geht Jesus selbst übrigens genau so kritisch mit der Bibel um, die damals im Judentum in Geltung stand. Dort stand im Buch Deuteronomium (5. Mose), Kapitel 24, etwa das Folgende geschrieben:

"Wenn ein Mann eine Frau nimmt und sie heiratet und sie ihm später nicht mehr gefällt, weil er etwas Schändliches an ihr gefunden hat, kann er ihr einen Scheidebrief schreiben und aushändigen und sie so aus seinem Haus verstossen."

Was genau als "etwas Schändliches" galt, sagt der Text nicht, und auch nicht, was in einem "Scheidebrief" zu stehen hatte.

Nach dem Schulchan Aruch, einer von dem Rabbiner Josef Karo im 16. Jahrhundert verfassten Zusammenstellung der religiösen Vorschriften (Halachot) des Judentums, hatte ein Scheidebrief (hebr. get) etwa folgenden Inhalt (in Auszügen):

"Ich (der Ehemann) stimme bereitwillig zu und stehe unter keinerlei Zwang, meine Frau zu entlassen, für frei zu erklären und von mir abzusondern ..., damit du die Erlaubnis und Vollmacht hast, zu gehen und einen Mann deiner Wahl zu heiraten. Kein Mensch kann dich von diesem Tag an daran hindern, dass du für jeden Mann erlaubt bist. Dies sei für dich ein Zeugnis der Entlassung, ein Brief der Freilassung und eine Urkunde der Freiheit im Einklang mit dem Gesetz Moses und Israels." (Plaut S. 265)

Das klingt ein wenig wie wenn heute Menschen ihre Arbeitsstelle gekündigt wird und das als "Freistellung" bezeichnet wird: Sie dürfen sich nun neuen Herausforderungen stellen (von denen die erste ist, dass niemand Sie in Ihrem Alter einstellen wird).

Wenn Jesus die Ehescheidung kritisiert, widerspricht er also ausdrücklich der damals gültigen Bibel und den darin enthaltenen Gesetzen, die damals als Gebote Gottes galten, die Mose einst am Sinai und in der Wüste den Israeliten übermittelt hatte.

Jesus bestreitet nicht, dass Mose es den Israeliten erlaubt hat, sich unter bestimmten Umständen von ihren Frauen zu trennen. Er sagt: "Nur weil ihr so hartherzig seid, hat er euch dieses Gebot gegeben." Eigentlich hat Gott nicht gewollt, dass Ehepaare sich trennen.

Wie Gott sich die Ehe eigentlich vorgestellt hat, entnimmt Jesus den beiden ersten Kapiteln der Bibel, die er kurz so zusammenfasst: "Am Anfang der Schöpfung hat Gott sie als Mann und Frau geschaffen. Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen, und die zwei werden ein Fleisch sein. Sie sind also nicht mehr zwei, sondern eins." Daraus zieht Jesus den Schluss: "Was Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen."

Wir können heute die Schöpfungserzählungen vom Anfang der Bibel nicht mehr so wörtlich nehmen. Nach allem, was wir heute wissen, ist die Welt nicht so entstanden, wie es dort dargestellt wird. Aber darauf kommt es hier gar nicht an. Für die Argumentation von Jesus sind zwei Gedanken aus der biblischen Schöpfungsgeschichte wichtig, deren Wahrheit nicht davon abhängt, ob die Schöpfungsgeschichte wahr ist, sondern davon, ob diese Gedanken mit unseren eigenen Erfahrung übereinstimmen.

Der eine Gedanke ist dieser: Der Sinn der Ehe ist eine Lebensgemeinschaft zweier Menschen, die sie so eng miteinander verbindet, dass das Leben von beiden zu einem gemeinsamen Leben verschmilzt, bildlich gesprochen: dass sie "ein Fleisch" werden.

Der zweite Gedanke, den Jesus der Schöpfungsgeschichte entnimmt, ist der Folgende: Wenn zwei Menschen sich in der Ehe miteinander verbinden, ist das mehr als nur eine Übereinkunft zwischen diesen beiden Menschen. Nicht diese beiden Menschen haben sich zusammengetan, sondern Gott hat sie miteinander verbunden.

Ich möchte diesen beiden Gedanken ein wenig weiter nachgehen und dabei gleich im voraus festhalten, dass sie meiner Meinung nach für eine Ehe zwischen zwei Männern oder zwei Frauen genau so gelten wie für eine Ehe zwischen einem Mann und einer Frau.

Zunächst also zum ersten Gedanken: In der Ehe verbinden sich zwei Menschen so eng miteinander, dass sie zu "einem Fleisch" werden, also nicht mehr zwei Leben führen, sondern nur noch ein gemeinsames Leben. Ist das so? Oder wäre es zumindest schön, wenn es so wäre?

Ich könnte mir vorstellen, dass schon wir hier in dieser Kirche uns darüber nicht einig sind. Ist eine so enge Lebensgemeinschaft in der Ehe überhaupt erstrebenswert? Sollte man sich nicht mindestens auch gegenseitig Freiräume zugestehen, in denen jeder sein eigenes Leben führen kann, ohne dass der oder die andere einem da hineinredet, vielleicht sogar ohne dass man alles voneinander weiss? Wird eine Ehe sonst nicht zu einem Gefängnis?

Aber ist es wirklich so, dass ich v.a. Freiheit verliere, wenn ich mich in Liebe mit einem anderen Menschen verbinde? Ist es nicht eher so, dass ich dabei ganz neue Freiheiten gewinne? Klar, ich kann nicht mehr allein über mein Leben bestimmen. Ich muss nicht nur für mich sorgen, sondern auch für meinen Partner oder meine Partnerin. Aber ich muss auch nicht mehr allein mit den Schwierigkeiten des Lebens fertig werden und kann meine Freude und mein Glück mit jemand anderem teilen.

Kohelet, der "Prediger Salomo" hat die Vorteile eines gemeinsamen Lebens gegenüber dem Alleinsein prägnant zusammengefasst - wobei er nicht nur die Ehe im Auge hat, sondern auch andere Partnerschaften oder Genossenschaften:

"Zwei haben es besser als einer allein, denn sie haben einen guten Lohn für ihre Mühe. Wenn sie fallen, kann der eine seinem Gefährten aufhelfen. Doch wehe dem, der allein ist und fällt, und keiner ist da, der ihm aufhelfen kann. Auch ist zweien warm, wenn sie sich schlafen legen. Doch einer allein, wie kann ihm warm werden? Und wenn einer den überwältigt, der allein ist, so halten die zwei jenem stand. Und der dreifache Faden zerreisst nicht so bald." (Koh 4)

Je enger zwei Menschen miteinander verbunden sind, desto mehr können sie aufeinander vertrauen, sich aufeinander verlassen. Wenn aus zwei Menschen "ein Fleisch" wird, wenn zwei Leben zu einem verschmelzen, dann muss man sich nicht ständig fragen: Genüge ich noch den Ansprüchen des anderen? Bin ich ihm oder ihr noch schön genug oder jung genug? Und man fragt auch umgekehrt nicht mehr ständig, ob einem der oder die andere noch Recht ist. Man gehört einfach zusammen.

Das heisst nicht, dass man sich nicht ändern und weiter entwickeln darf und dass man sich nichts voneinander wünschen darf oder sich gegenseitig nicht kritisieren darf. Bei all dem steht aber nicht dauernd zur Diskussion, ob man weiter miteinander leben will oder nicht. Darauf kann man bauen und darauf kann man vertrauen, in guten wie in schlechten Zeiten.

Niemand muss eine solch enge Beziehung eingehen. Und eine solche Beziehung kann auch scheitern. Wenn man aber von vornherein das Scheitern einkalkuliert und sich die Scheidung als Notausgang offen hält, dann kann die Gemeinschaft zweier Menschen in der Ehe überhaupt nicht die Dichte und die Tiefe erreichen, in der aus zwei Leben eines wird, aus zwei Menschen "ein Fleisch".

Wer das Risiko der radikalen Hingabe an einen anderen Menschen scheut, der kann allzu grosse Enttäuschungen vermeiden. Er oder sie wird aber auch das Glück nicht erleben, das es in einer solchen Lebensgemeinschaft geben kann, die auf absoluter und bedingungsloser Treue und Verlässlichkeit basiert. Es ist etwas ganz anderes, ob man einander verspricht, in guten und in schlechten Zeiten füreinander dazusein, "solange es gut geht" oder "bis der Tod uns scheidet".

Auch das ist keine Garantie dafür, dass eine Ehe hält - aber soll man ein Ziel von vornherein aufgeben, nur weil man es vielleicht nicht erreichen kann?

Das ist also der eine Gedanke, den Jesus der Schöpfungsgeschichte entnommen hat, und der ihn dazu bewogen hat, sich dafür auszusprechen, dass Ehen eigentlich nicht geschieden werden sollten: Der Sinn der Ehe ist eine Lebensgemeinschaft zweier Menschen, die sie so eng miteinander verbindet, dass das Leben von beiden zu einem gemeinsamen Leben verschmilzt, bildlich gesprochen: das sie "ein Fleisch" werden. Wenn ein Ehepaar von vornherein mit der Möglichkeit rechnet, sich wieder zu trennen, kann es sich damit selbst das Glück verbauen, das in einer engen Lebensgemeinschaft mit absolutem gegenseitigen Vertrauen und unbedingter Treue zueinander besteht.

Der zweite Gedanke, den Jesus der Schöpfungsgeschichte entnimmt, ist der Folgende: Wenn zwei Menschen sich in der Ehe miteinander verbinden, ist das mehr als nur eine Übereinkunft zwischen diesen beiden Menschen. Nicht diese beiden Menschen haben sich zusammengetan, sondern Gott hat sie miteinander verbunden.

In der biblischen Zeit wurden Ehen wohl meistens von den Eltern des Ehepaars arrangiert. Das schliesst aber nicht aus, dass auch die - üblicherweise noch recht junge - Braut und der Bräutigam dabei ein Wörtchen mitzureden hatten. Heute gilt es weitherum als Ideal, dass zwei Menschen heiraten, wenn und weil sie sich lieben.

Es gibt aber auch ein Sprichwort, nach dem Ehen im Himmel geschlossen werden. Im alttestamentlichen Buch Tobit wird erzählt, wie Gott verborgen im Hintergrund die Ehe zwischen Tobias und Sara eingefädelt hat.

Ich finde es ein wenig gewagt, für jede Ehe Gott verantwortlich zu machen. Aber ich kann dem Gedanken, dass es letztlich Gott ist, der Menschen in der Ehe miteinander verbindet, einiges abgewinnen.

Wir sprechen heute von "Partnersuche" und "Partnerwahl". Aber wenn man einen Menschen findet, den man so sehr liebt, dass man nicht mehr ohne ihn oder sie leben will, dann ist da doch noch mehr im Spiel als die vernünftige Abwägung, ob ein Mensch meinen Wunschvorstellungen eines idealen Lebenspartners oder einer idealen Lebenspartnerin gerecht wird.

Die Liebe, die zwei Menschen zu einem Ehepaar verbindet und sie als Ehepaar ein Leben lang zusammenhält, ist nicht das Ergebnis vernünftiger Überlegungen. Liebe überkommt die Menschen, ergreift sie, führt sie zueinander und verbindet sie miteinander. Liebe ist nicht ein Produkt der Menschen, sondern Liebe ist ein Geschenk an die Menschen. Liebe verbindet Menschen miteinander. Und wenn Gott die Liebe ist, wie es im Neue Testament heisst, dann ist es Gott, der die Menschen in Liebe miteinander verbindet.

Wer sich für diese Erfahrung öffnet, für den ist die Ehe mehr als ein Zweckbündnis oder eine Partnerschaft zwischen Menschen, die ähnliche Interessen, ähnliche Vorlieben und einen ähnlichen Geschmack haben, so dass sie sich beim Zusammenleben möglichst wenig gegenseitig auf die Nerven gehen.

Eine Ehe kann mehr sein als eine Wohngemeinschaft, bei der man sich auch noch das Bett teilt. Eine Ehe kann auch die Gemeinschaft von zwei Menschen sein, die sich gegenseitig als Geschenk betrachten, als einen kostbaren Schatz, der ihnen von Gott anvertraut ist und für den sie Verantwortung übenehmen, in guten und schlechten Zeiten, bis der Tod sie scheidet.

Auch eine solche Ehe kann scheitern, weil sich einer der beiden oder beide zu wenig Mühe geben oder weil einer der Aufgabe nicht gewachsen ist, für den anderen auch in schweren Zeiten da zu sein. Aber die Möglichkeit des Scheiterns ist kein Grund, von vornherein nichts zu wagen, sich nicht von der Liebe mit einem anderen Menschen verbinden zu lassen und in Liebe für diesen Menschen da zu sein - und darin ein Geschenk zu sehen und nicht eine lästige Pflicht.

Was Gott verbunden hat, das soll der Mensch nicht trennen. Das gilt meiner Meinung nach nicht nur für die Ehe, sondern auch für viele andere Beziehungen zwischen Menschen. Viele, vielleicht sogar die meisten Beziehungen zu anderen Menschen haben wir uns nicht ausgesucht. Wir sind irgendwie da hinein geraten: unsere Eltern, unsere Geschwister, unsere Kinder, unsere Schul- und Arbeitskollegen, unsere Landsleute, die Menschen, mit denen wir hier gemeinsam in der Kirche sitzen ...

Manche dieser Beziehungen empfinden wir als ein grosses Geschenk, manche sind uns eher lästig, in manchen sind wir für andere Menschen verantwortlich, ohne dass wir uns das ausgesucht haben. Es kann passieren, dass wir unser eigenes Leben radikal ändern müssen, weil z.B. ein Familienangehöriger schwer erkrankt und auf unsere Hilfe angewiesen ist.

Wir können uns dem nicht einfach entziehen und uns trennen von Menschen, mit denen Gott uns verbunden hat. Und wir können nur hoffen, dass die Menschen, mit denen wir verbunden sind, das genau so sehen, wenn wir plötzlich auf sie angewiesen sind.

Es gehört zu den Grunderfahrungen und Grundüberzeugungen des Christentums, dass wir als Menschen und als Christen nicht für uns selbst leben, sondern für einander. "Tragt einer des anderen Last", schreibt der Apostel Paulus im Brief an die Galater (Kap. 6), "so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen." Oder im Brief an die Philipper (Kap. 2): "Seid eines Sinnes, einander verbunden in ein und derselben Liebe, einmütig und auf das eine bedacht! Tut nichts zum eigenen Vorteil, kümmert euch nicht um die Meinung der Leute. Haltet vielmehr in Demut einander in Ehren; einer achte den andern höher als sich selbst! Habt nicht das eigene Wohl im Auge, sondern jeder das des andern."

Das sind keine Aufforderungen zu einem moralischen Heroismus, sondern nüchterne Einsichten, die uns befreien von einem Egoismus, mit dem wir uns selbst überfordern und am Ende scheitern würden.

Sie kennen sicher das Sprichwort: Wenn jeder für sich selber sorgt, dann ist für alle gesorgt. Das klingt auf den ersten Blick einleuchtend, ist aber auf den zweiten Blick ziemlich zynisch. Gibt es nicht auch Menschen, die nicht für sich selber sorgen können? Ist das nicht bei allen Menschen so am Anfang ihres Lebens und bei vielen dann wieder so am Ende - ganz zu schweigen von allfälligen Krankheiten und Behinderungen dazwischen. Ich finde, die Maxime dass jeder für sich selber sorgen sollte, ist eine gnadenlose Überforderung für die meisten Menschen - und eine schamlose Heuchelei bei denen, die andere für sich arbeiten lassen und sich, wenn sie pleite gehen, auf Kosten der Allgemeinheit sanieren.

Nicht wenn jeder für sich selbst sorgt, ist für alle gesorgt, sondern wenn sich jeder um die anderen kümmert. Wer sich darauf einlässt, kann auch die Erfahrung machen, wie befreiend und beglückend es sein kann, für einen Menschen Verantwortung zu übernehmen und sich um ihn zu kümmern, den Gott - oder der Zufall - mit ihm verbunden hat, nicht nur in der Ehe, sondern auch in den zahlreichen und vielfältigen Beziehungen mit anderen Menschen, in die wir eingebunden sind.