26.1.22

Achtsamkeit

Wenn ich schlafe, dann schlafe ich.

Wenn ich sitze, dann sitze ich.

Wenn ich gehe, dann gehe ich.

Und meistens denke ich beim Gehen in Ruhe über Dinge nach, die mich beschäftigen.

Dann gehe ich und denke nach.

Und manchmal träume ich, wenn ich schlafe.

Jetzt passiert immer Vieles gleichzeitig.

Achtsam sein: Darauf achten, was jetzt alles geschieht - und daran denken, was jetzt ganz woanders auf der Welt geschieht ... und was vorhin geschehen ist ... und was bald geschehen wird ...

Das alles auszublenden wäre ziemlich unachtsam, oder?

21.12.20

"Er stürzt die Mächtigen vom Thron!" Warten auf den Umsturz Gottes?

Lukas erzählt von Jesus' Geburt ...

Die Geschichten rund um die Geburt von Jesus in den ersten beiden Kapiteln des Lukasevangeliums sind wohl erst ein halbes Jahrhundert nach dem Tod von Jesus entstanden und mehr oder weniger frei erfunden. Trotzdem sind diese Geschichten interessant und lehrreich! Lassen wir uns einfach einmal auf sie ein, tauchen wir ein in die fremde und etwas seltsame Welt, die sie uns vor Augen stellen!

Ein revolutionäres Milieu ...

Es ist eine Welt, in der Engel Menschen erscheinen und ihnen Wunder ankündigen.

Da sind der Priester Zacharias und seine Frau Elisabeth, ein kinderloses altes Ehepaar. Elisabeth ist längst jenseits des gebärfähigen Alters. Eines Tages erscheint ein Engel erscheint dem Zacharias im Tempel beim Gottesdienst und spricht zu ihm: „Ihr werdet ein Kind bekommen. Es soll Johannes heissen (= Jahwe ist gnädig / hat Erbarmen). Er wird wirken im Geist und in der Kraft des Propheten Elija. Er wird dem Messias den Weg bereiten.“

Da ist Maria, verlobt, aber noch Jungfrau, wohl noch im Teenageralter. Zu ihr kommt eines Tages der Engel Gabriel und spricht zu ihr: „Du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären. Du sollst ihm den Namen Jesus geben (= Josua = Jahwe ist Rettung). Er wird gross sein und Sohn des Höchsten (Gottes) genannt werden. Gott, der Herr, wird ihm den Thron seines Vaters David geben. Er wird König sein über das Haus Jakob (= das Volk Israel) in Ewigkeit. Seine Herrschaft wird kein Ende haben.“

Maria vertraut darauf, dass diese Ankündigungen sich erfüllen werden. In ihrem Lobgesang spricht sie so, als hätten sie sich schon erfüllt: „Gott hat Gewaltiges vollbracht mit seinem Arm. Er hat zerstreut, die hochmütig sind in ihrem Herzen. Er hat Mächtige vom Thron gestürzt und Niedrige erhöht. Er hat Hungrige satt gemacht mit Gutem und Reiche leer ausgehen lassen. Er hat sich Israels angenommen, seines Dieners, wie er es unseren Vorfahren versprochen hat, Abraham und seinen Nachkommen in Ewigkeit.“

Als Jesus gerade geboren ist, in einem Stall in Bethlehem, verkündet ein Engel den Hirten, die in der Nähe bei ihren Schafen und Ziegen Nachtwache hielten: „Euch wurde heute der Retter geboren, der Gesalbte (griechisch: Christus, hebräisch: Messias), der Herr, in der Stadt Davids.“

Acht Tage später, als das Baby Jesus im Tempel in Jerusalem beschnitten wird, kommt ein alter Mann namens Simon hinzu, dem Gott versprochen hat: „Du wirst nicht sterben, bevor du den Messias gesehen hast.“ Simon nimmt den kleinen Jesus auf die Arme und sagt: „Nun lässt du deinen Diener gehen, Herr, in Frieden, wie du gesagt hast, denn meine Augen haben das Heil gesehen, das du vor den Augen aller Völker bereitet hast, ein Licht zur Erleuchtung der Heiden und zur Verherrlichung deines Volkes Israel.“

Schliesslich tritt auch noch eine ebenfalls hochbetagte Prophetin namens Hanna auf und preist Gott und spricht von ihm zu allen, die auf die Erlösung Jerusalems warteten.

Ein umstürzlerisches und revolutionäres Milieu ist es, in das Jesus da hinein geboren wird. Schliesslich steht Jerusalem und das ganze Heilige Land unter der Herrschaft der Römer und ihrer Vasallen wie z.B. Herodes Antipas in Galiläa und Peräa. In Jerusalem und Judäa ist Pontius Pilatus Statthalter der Römer. Nicht wenige Juden hoffen auf einen Umsturz oder mit versuchen sogar, mit terroristischen Anschlägen einen Umsturz herbeizuführen und die römische Besatzungsmacht aus ihrem Land zu vertreiben. Immer wieder treten Menschen als Messias auf - und werden in der Regel irgendwann aufgespürt und zusammen mit ihren Anhängern grausam hingerichtet, vorzugsweise gekreuzigt.

Ein Kind als Hoffnungsträger ...

Wie wächst ein Kind auf, dessen Umfeld davon überzeugt ist, es sei der Messias, es werde, wenn es gross ist, die Revolution Gottes durchführen, die Mächtigen vom Thron stürzen, die Hungrigen satt machen, die Römer vertreiben?

Bringt man ihm schon als Kind bei, mit Waffen umzugehen und Attentate zu verüben? Oder behält man seine Erwartungen für sich, um das Kind nicht zu gefährden?

Wie ist es für ein Kind, aufzuwachsen unter der Erwartung, es sei etwas ganz Besonderes, der Retter, der Erlöser, der künftige König Israels?

Hat Jesus als Erwachsener die Erwartungen und Hoffnungen seiner Mutter erfüllt? Lesen wir weiter im Lukasevangelium!

Enttäuschte Hoffnungen?

Jesus spricht zu den Menschen davon, dass die Herrschaft Gottes, das Reich Gottes „nahe gekommen“ ist. Aber wenn er das Reich Gottes mit Gleichnissen beschreibt, klingt es nicht nach einem politischen Umsturz und einer Vertreibung der Römer, sondern eher danach, dass Menschen wieder zueinander finden, dass Menschen lernen, miteinander auszukommen, dass sie lernen, was wirklich wichtig ist im Leben, und sich dafür einzusetzen.

Jesus heilt Menschen und treibt Dämonen aus. Und er sagt: „Wenn ich durch den Finger Gottes die Dämonen austreibe, dann ist das Reich Gottes bei euch angekommen.“

Als die Pharisäer ihn fragen: Wann kommt das Reich Gottes? antwortet er ihnen: „Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es beobachten könnte. Man wird auch nicht sagen können: Hier ist es! oder: Dort ist es! Denn seht, das Reich Gottes ist mitten unter euch.“

Wartet nicht auf einen Umsturz der Verhältnisse, wartet nicht darauf, dass Gott eine bessere Welt schafft. Lebt einfach so, wie ihr meint, dass das Leben in einer besseren Welt sein sollte. Ihr könnt mehr bewirken, als ihr meint. Vielleicht ist es sogar manchmal besser, wenn ihr gar nichts tut und einfach geschehen lasst, was Gott euch an Möglichkeiten zuspielt.

Sagt Jesus damit die Revolution ab, die seine Mutter so sehnsüchtig erwartet hat? Oder spricht er von einer noch radikaleren Revolution - einer Revolution, die nicht die Hungrigen satt macht und die Satten hungrig, sondern den Hunger abschafft - einer Revolution, die nicht die Mächtigen vom Thron stürzt und die Machtlosen auf den Thron setzt, sondern die Throne umstürzt - eine Revolution die nicht den Kolonialismus, die Herrschaft der mächtigen Völker über die schwachen beseitigt, sondern die Grenzen der Völker sprengt und alle Menschen zu Schwestern und Brüdern macht?

Am Ende hängt Jesus am Kreuz, wie ein Aufrührer oder Terrorist, hingerichtet von den Römern, der Besatzungsmacht. Über ihm hatten die Römer eine Inschrift angebracht, um ihn zu verspotten und zu demütigen: „Dies ist der König der Juden.“

Nach dem Johannesevangelium war Jesus‘ Mutter dabei, als er gekreuzigt wurde. Matthäus, Markus und Lukas erwähnen sie nicht.

Was dachte sie, falls sie die Hinrichtung ihres Sohnes miterlebt hat? Dass er ihre Erwartungen enttäuscht hat, dass er Israel nicht befreit hat von der Herrschaft der Römer und vom Hunger, dass er das Königreich seines Vorfahren David nicht wieder aufgerichtet hat?

Oder sah sie die Erwartungen und Hoffnungen, die sie als junge Frau hatte, jetzt in einem neuen Licht, sagte sie: die Revolution Gottes geschieht anders als ich es mir damals als junge Frau vorgestellt habe - nicht mit einem grossen Knall, sondern in vielen kleinen Schritten?

Ein Umsturz der anderen Art?

Am Anfang der Apostelgeschichte, der Fortsetzung seines Evangeliums, erzählt Lukas, dass Jesus nach seiner Auferstehung immer wieder seinen Aposteln erschienen ist und mit ihnen über das Reich Gottes gesprochen hat. Dabei haben ihn seine Jüngerinnen und Jünger gefragt: „Herr, wirst du noch in dieser Zeit deine Herrschaft wieder aufrichten für Israel?“ Jesus hat ihnen geantwortet: „Euch gebührt es nicht, Zeiten und Fristen zu erfahren, die der Vater in seiner Vollmacht festgesetzt hat. Aber ihr werdet Kraft empfangen, wenn der heilige Geist über euch kommt, und ihr werdet meine Zeugen sein, in Jerusalem, in ganz Judäa, in Samaria und bis ans Ende der Erde.“

Die politischen Hoffnungen der Jüngerinnen und Jünger auf ein messianisches Königreich in Israel haben sich bis heute nicht erfüllt. Aber von damals bis heute haben Menschen im Geist und in der Kraft Gottes Kranke gepflegt und manchmal auch geheilt, haben die Grenzen der Klassen, der Nationen, der Kulturen und Religionen übersprungen, haben Hunger und Durst gelindert, haben Nackte bekleidet, haben Gefangene besucht und befreit, haben sich eingesetzt für Recht und Gerechtigkeit, haben das Feuer der Liebe entzündet gegen die Dunkelheit, die Kälte, die Einsamkeit.

18.8.20

"Kulturelles Gedächtnis" (Adler / Assmann)

 Jeremy Adler hat in der "Welt" vom 20. Juni 2020 eine präzise und konzise Kritik der Theorie des "kulturellen Gedächtnisses" vorgelegt, die in den letzten Jahrzehnten von Jan und Aleida Assmann vertreten wurde und die kulturwissenschaftliche sowie mehr noch die feuilletonistische Diskussion stark beeinflusst hat - nicht unbedingt zu deren Vorteil.

In jüngster Zeit feiert das Studium des Gedächtnisses Konjunktur. Wie schon oft bemerkt wurde, ist es geradezu zur Obsession mancher Wissenschaftler geworden. Dazu gehört auch das zuerst von den Konstanzer Gelehrten Jan und Aleida Assmann beschriebene Phänomen des "kulturellen Gedächtnisses", demzufolge Geschichte nicht als solche dargestellt wird, sondern durch die Erinnerung an ein Geschehen, wie es sich in Riten, Denkmälern und sozialen Praktiken des Handelns offenbart. Die deutsche Debatte um Erinnerungskultur der vergangenen zehn Jahre wäre ohne die Assmanns nicht denkbar gewesen. 

Der Begriff des "kulturellen Gedächtnisses" der Assmanns leitet sich von dem ab, was Maurice Halbwachs in "Les cadres sociaux de la mémoire" (1925, Deutsch: "Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen") das "kollektive Gedächtnis" nannte: "Kein Gedächtnis ist möglich außerhalb des Rahmens welche die Menschen, die in einer Gesellschaft leben, verwenden, um ihre Erinnerungen zu bestimmen und abzurufen".

Halbwachs ist sich gewiss, dass es sich um ein soziales, von der Soziologie zu erfassendes Phänomen handelt. Er meint, im Gegensatz zum individuellen Gedächtnis operiere die kollektive Erinnerung mit einem komplexen Gebilde von Texten und Institutionen, von Menschen und Ideen. Er untersucht besonders das christliche oder, wie er es nennt, das religiöse Gedächtnis, das vor allem auf Geboten, Dogmen und Riten beruht.

Die Assmanns wollen ihr Konzept gegen Halbwachs abgrenzen, doch wirkt ihre Demarkation oft wenig stichhaltig. Für Aleida Assmann ist das kulturelle Gedächtnis "die Tradition in uns, die über Generationen, in jahrhunderte-, ja teilweise jahrtausende-langer Wiederholung gehärteten Texte, Bilder und Riten, die unser Zeit- und Geschichtsbewusstsein, unser Selbst- und Weltbild prägen." Das Problem an dieser Definition ist jedoch die Frage, was mit der "Tradition in uns" gemeint ist. Wer ist dieses "wir"? Wie kann eine Tradition "in" uns sein, da sie doch erst durch die Beziehung zwischen den Generationen entsteht. 

Ferner behaupten die Assmanns, das "kulturelle Gedächtnis" sei eine "Tradition", erklären aber nicht, inwiefern ein Gedächtnis sich von einer Tradition unterscheidet. Dieses Gedächtnis habe die Eigenschaft, die gesamte Lebenswelt des Menschen zu bestimmen - "Zeit- und Geschichtsbewusstsein, unser Selbst- und Weltbild". Das widerspricht der Auffassung von Halbwachs insofern, als es das Gedächtnis von seinem sozialen Rahmen - und damit von jeglicher Wirklichkeit - loslöst und verselbständigt.

Das "Gedächtnis" im Assmannschen Modell stellt die Ursache sämtlicher menschlicher Betätigungen dar, es wirkt wie eine Totalerklärung. Alles, was gemeinhin Religion und Mythologie, Philosophie und Wissenschaft, Literatur und Kunst, Ethik und Recht ermöglichten, soll nun das "kulturelle Gedächtnis" leisten; es ist das einzige Erklärungsprinzip. Das bedeutet aber, die Wissenschaft im Irrationalen zu grundieren, alles bleibt im Reich der Behauptungen. Das Assmannsche Geschichtsbild läuft auf eine Substanzialisierung einzelner Völker oder Religionen hinaus - etwa "Juden", "Christen" oder "Muslime", das Soziale, das für Halbwachs grundlegend war, entfällt.

25.9.19

Strafe mich nicht in deinem Zorn - Eine Predigt über Psalm 6

Psalm 6

GOTT, strafe mich nicht in deinem Zorn und züchtige mich nicht in deinem Grimm. Sei mir gnädig, GOTT, denn ich verschmachte, heile mich, GOTT, denn meine Gebeine sind erschrocken. Tief erschrocken ist meine Seele. Du aber, GOTT, wie lange? Kehre wieder, GOTT, errette mein Leben, hilf mir um deiner Gnade willen. Denn im Tod gedenkt man deiner nicht, wer wird im Totenreich dich preisen? Ich bin erschöpft von meinem Seufzen, ich tränke jede Nacht mein Bett, mit meinen Tränen überschwemme ich mein Lager. Schwach geworden ist mein Auge vor Gram, matt geworden von allen, die mich bedrängen. Weicht von mir, ihr Übeltäter alle, denn GOTT hat mein lautes Weinen gehört. GOTT hat mein Flehen gehört, GOTT nimmt mein Gebet an. Es werden zuschanden, es erschrecken alle meine Feinde, sie werden zurückweichen, werden zuschanden im Nu.

Der Sprecher dieses Psalms klagt über eine ganze Reihe von Leiden: Er ist anscheinend krank, und zwar körperlich und seelisch: „Ich verschmachte ... meine Gebeine sind erschrocken ... tief erschrocken ist meine Seele.“ Deshalb bittet er Gott: „Heile mich! ... Kehre wieder! ... Errette mein Leben! ... Hilf mir um deiner Gnade willen!“ Er sieht sich schon an der Schwelle des Todes. Deshalb ist es seiner Meinung nach so dringlich, dass Gott ihm hilft und ihn vor dem Tod rettet. Denn wenn er tot ist, kann er Gott nicht mehr loben und preisen. Als Toter kann er nicht einmal mehr an Gott denken. Hätte Gott nicht mehr davon, wenn er den Bittsteller rettet und dafür gelobt wird? (Ein Gedanke, der für uns vielleicht etwas befremdlich ist.) Aber auch jetzt schon, in seiner Krankheit, kann der Sprecher Gott nicht preisen. Dafür ist er viel zu schwach: „Ich bin erschöpft von meinem Seufzen. Ich tränke jede Nacht mein Bett, mit meinen Tränen überschwemme ich mein Lager. Mein Auge ist schwach geworden vor Kummer.“

Neben der Krankheit leidet der Sprecher des Psalms offenbar auch unter Menschen, die ihm feindselig gesonnen sind und ihn bedrängen. Am Ende des Psalms hat man fast den Eindruck, dass der Sprecher seine Krankheit ganz vergessen hat, denn er spricht nur noch von seinen Feinden, die er als Übeltäter tituliert: „Ich bin matt geworden von allen, die mich bedrängen. Weicht von mir, ihr Übeltäter alle, denn GOTT hat mein lautes Weinen gehört. GOTT hat mein Flehen gehört, GOTT nimmt mein Gebet an. Es werden zuschanden, es erschrecken alle meine Feinde, sie werden zurückweichen, werden zuschanden im Nu.“

Krankheit und Feinde sind Probleme, die auch sonst in den Klagepsalmen oft angesprochen werden. Beides hat die Menschen damals anscheinend weit mehr bedrängt als es bei uns heute der Fall ist. Wir können heute Schmerzen mit Medikamenten lindern und viele Krankheiten problemlos heilen denen die Menschen damals hilflos ausgeliefert waren. Eine Grippe, eine Lebensmittelvergiftung, eine Blinddarmentzündung, eine verschmutzte Wunde, ein Arm- oder Beinbruch, so etwas konnte einen Menschen damals umbringen oder zum Invaliden machen.

In den Dörfern, und kleinen Städten, in denen fast alle Menschen von Ackerbau und Viehzucht lebten, konnte es schnell zu Streitigkeiten zwischen Nachbarn kommen: Dein Vieh hat von meiner Weide gefressen. Deine Kuh, auf die Du nicht aufgepasst hat, hat meinen Garten zertrampelt oder sogar mein Kind getötet. Du machst meiner Frau schöne Augen. Dein Sohn hat meine Tochter verführt. Du hast bei unseren Nachbarn Lügen über mich verbreitet. Konflikte zwischen Nachbarn konnten leicht eskalieren. Es gab keine Polizei, die man zur Hilfe rufen konnte.

Vielleicht nennt unser Psalm Krankheit und Feinde nebeneinander, damit sich möglichst viele Leser oder Hörer in diesem Gebet wiederfinden konnten. Vielleicht ist der Gedanke aber auch, dass Krankheit - körperlich oder seelisch - oft Aggressionen bei den Mitmenschen eines Kranken auslöst. Sie müssen die Arbeiten übernehmen, die der oder die Kranke sonst erledigen würde. Sie müssen ihn oder sie pflegen und versorgen. Und sie müssen sich die ständigen Klagen und das dauernde Gejammer anhören. Da kann es schon passieren, dass das anfängliche Mitleid mit der Zeit in Ärger oder sogar in offene Feindseligkeit umschlägt.

Neben Krankheit und Feinden scheint den Sprecher unseres Psalms aber noch etwas weiteres zu bedrücken: Er betrachtet sein ganzes Unglück als eine Strafe und Zurechtweisung durch Gott. Deshalb bittet er Gott: „Strafe mich nicht in deinem Zorn und züchtige mich nicht in deinem Grimm. Sei mir gnädig ...“ Dabei bezeichnen die Ausdrücke für „strafen“ und „züchtigen“ im Hebräischen weniger eine Strafe im juristischen Sinne, sondern eher Erziehungsmassnahmen, zu denen damals selbstverständlich auch noch das „züchtigen“ gehörte.

In vielen Psalmen beklagt sich der Sprecher darüber, dass ihm Unrecht widerfahren ist, obwohl er unschuldig ist und keine gravierenden Fehler gemacht hat in seinem Leben. Das setzt voraus, dass Unglück normalerweise die Strafe dafür ist, dass jemand etwas unrechtes getan hat. Wer nichts unrechtes getan hat, den oder die sollte eigentlich auch kein Unglück treffen.

Der Sprecher unseres Psalms protestiert nicht dagegen, dass Gott ihn mit Unglück bestraft und züchtigt. Er bittet Gott nur, ihn nicht in seinem Zorn zu strafen und in seinem Grimm zu züchtigen, ihn also nicht hart zu bestrafen, sondern gnädig und gütig. Entweder hat der Sprecher schon vorher gewusst, dass er etwas falsch gemacht hat, oder sein Unglück hat es ihm bewusst gemacht. Er steht zu seiner Schuld und akzeptiert, dass er dafür bestraft wird. Er bittet nur um eine gnädige Strafe, die ihn nicht umbringt, sondern ihn wieder ins Leben zurück führt.

Wenn ich auf mein Leben zurück schaue, kommen mir durchaus Zeiten und Situationen in den Sinn, in denen ich micht ähnlich gefühlt habe wie der Sprecher dieses Psalms, in denen es mir verdientermassen schlecht ging, in denen Unglück und Leid für mich ein Anstoss waren, darüber nachzudenken, was ich in meinem Leben falsch gemacht habe und wie ich es besser machen könnte, und in denen mir klar war, dass ich das aus eigener Kraft nicht schaffen würde, sondern nur mit Gottes gnädiger Hilfe. Vielleicht geht es Ihnen ähnlich.

Der Gedanke, dass Unglück und Leid eine Strafe Gottes sein können, durch die wir herausgefordert werden, uns kritisch zu prüfen, Fehler zu erkennen und zu versuchen, uns zu bessern, der Gedanke, dass Gott uns durch Unglück und Leid erziehen, belehren und den Weg in ein neues Leben zeigen will, dieser Gedanke hat durchaus etwas für sich. Er kann uns helfen, im Unglück nicht zu verzweifeln und zu versinken, sondern daraus zu lernen und gestärkt und verwandelt daraus hervorzugehen.

Der Gedanke, dass Unglück und Leid eine Strafe Gottes sind, kann uns aber auch den Blick für die Wirklichkeit verstellen und uns in unserer Lieblosigkeit und Rücksichtslosigkeit bestärken, vor allem dann, wenn wir diesen Gedanken nicht zur Selbstkritik einsetzen, sondern zur Kritik anderer Menschen. Da bekommt der Nachbar mit 50 einen Herzinfarkt: Selber schuld! Warum hat er auch immer so viel gearbeitet, so fett gegessen und keinen Sport getrieben? Das musste ja so kommen. Und jetzt soll ich - via Krankenkasse - auch noch mit-bezahlen für seine Behandlung? Ist das nicht ungerecht? Müsste man Leuten, die so ungesund leben, nicht höhere Prämien abverlangen? Besonders im Gesundheitsbereich wird heute oft so getan, als könne man, wenn man nur alles richtig macht, sein Leben lang von Krankheiten verschont bleiben. (Und dann sind mit sechzig die Gelenke kaputt vom vielen Joggen: Selber schuld!) Aber auch in anderen Bereichen machen wir es uns oft einfach, indem wir so tun, als seien die Menschen für ihr Unglück selbst verantwortlich, ob arbeitslos oder invalid, ob Flüchtling oder Strafgefangener: Selber schuld! Kürzlich habe ich in einem Magazin gelesen: Wer wirklich will und sich ein bisschen Anstrengt, der kann mit 40 Millionär sein. Sie sind kein Millionär? Selber schuld!

Das kann natürlich nicht stimmen. Und das merken wir nicht erst heute. Das haben die Menschen in der Bibel auch schon gewusst. Denken wir nur an Hiob, den Superreichen und Superfrommen, dem Gott sein Hab und Gut, seine Familie und seine Gesundheit wegnimmt, der im Staub und in der Asche draussen vor der Stadt sitzt und dem seine Freunde vorwerfen, dass er sagt: Ich habe doch nichts verbrochen! Ich habe das nicht verdient! Genauso wenig wie all die armen und elenden Menschen, die am Rand der Gesellschaft leben (oder heute in den „unentwickelten“ Ländern), die den Reichen die Toiletten putzen, den Kaffee pflücken und die Hemden nähen und dabei selbst kaum über die Runden kommen, deren Kinder an einer simplen Infektion sterben, weil es keine erschwinglichen Medikamente gibt. Die haben das auch nicht verdient. Mag sein, dass die Reichen nicht schuld sind am Elend der Armen. Aber sie werden schuldig, wenn sie es mit einem Achselzucken quittieren und nichts dagegen tun. So redet Hiob - und am Ende gibt Gott ihm Recht und die frommen Freunde müssen einsehen, dass sie Unrecht hatten.

Die Gleichung: „Unglück = Strafe für Unrecht“, die geht nicht auf. Diese Einsicht wird unausweichlich, wenn wir uns an Jesus von Nazaret erinnern, nach dem wir uns Christen nennen. Er wurde angefeindet und verspottet, am Ende haben sie ihn gefoltert und umgebracht. Aber das war nicht so, weil er Unrecht getan hatte und dafür bestraft wurde. Jesus hat gelitten und ist gestorben, weil er recht hatte. Viele Menschen konnten das damals nicht begreifen, und viele können es heute noch nicht. „Steig herunter vom Kreuz!“ haben sie ihm zugerufen. „Dann sehen wir, dass du nicht von Gott bestraft wirst.“ Aber Jesus ist nicht vom Kreuz herunter gestiegen.

Mit Jesus am Kreuz ist ein Bild Gottes gestorben, das schon im Alten Testament, bei Hiob und auch in anderen Schriften, als hoch problematisch erkannt worden war: das Bild Gottes als himmlischer Richter oder Erzieher, der die Menschen mit Unglück und Leid bestraft und züchtigt, wenn sie etwas falsch gemacht haben. Jesus hat den Menschen andere Bilder von Gott vor Augen gestellt: Gott lässt es regnen und die Sonne scheinen über Gerechte und Ungerechte, über gute und schlechte Menschen. Gott geht den Menschen nach, wenn sie auf Abwege geraten, so wie ein Hirt seinen Schafen, und bringt sie zurück auf den richtigen Weg. Gott freut sich, wenn ein Mensch, der für die gute Sache verloren schien, sich besinnt und auf den rechten Weg zurückkehrt. Gott zahlt jedem den Mindestlohn, den er zum überleben braucht, ob er nun einen Tag, ein paar Stunden oder nur eine Stunde gearbeitet hat. Gott bringt die Menschen zur Besinnung und Umkehr, indem er ihnen ihre Schuld vergibt, nicht indem er sie dafür bestraft.

Der Gott, von dem Jesus gesprochen hat, ist kein Gott der Willkür, wie es manche Götter des alten Orients und der Antike waren, die manchmal einfach aus Willkür oder schlechter Laune heraus einen Menschen, ein Volk oder die ganze Menschheit ins Unglück stürzten. Gott ist aber auch nicht - wie in grossen Teilen des Alten Testaments - ein Gott der Moral und der Gerechtigkeit, der die Guten mit Wohlstand und Glück belohnt und die Bösen mit Unglück und Krankheit bestraft, und der dafür sorgt, dass es jedem genau so ergeht, wie er es verdient hat - sei es hier auf Erden oder dann im Jenseits. Der Gott, von dem Jesus gesprochen hat, ist kein Gott der Willkür und kein Gott der Moral, sondern ein Gott der Liebe und der Freiheit, ja, man kann sagen: Gott ist der Geist der Liebe und der Freiheit, der die Welt und die Menschen durchdringt und erfüllt.

Er hilft den Menschen, zu erkennen, was gut ist und was böse, und jeweils das zu tun, was richtig und nötig ist - so wie der „barmherzige Samariter“, der sieht: Da liegt ein Mensch verletzt am Weg, und der ihm hilft, ohne lange zu überlegen. Die Liebe, der wir unser Leben verdanken und die uns am Leben erhält, befreit uns von der Angst, dass Gott uns für unsere Sünden und Fehler bestraft. Die Liebe, in der wir uns mit allen Menschen und mit der ganzen Schöpfung verbunden wissen, befreit uns von der Fixierung auf unser eigenes Glück oder Unglück. Sie befreit uns auch dazu, unsere Fehler und unsere Schuld zu erkennen, dazu zu stehen und es künftig besser zu machen - und zwar nicht nur dann, wenn es uns schlecht geht, sondern auch und gerade dann, wenn es uns gut geht.

Können wir als Christen, für die Gott der Geist der Liebe und der Freiheit ist, den alttestamentlichen Psalm nachsprechen und Gott bitten: „Strafe mich nicht in deinem Zorn und züchtige mich nicht in deinem Grimm“? Ich weiss keine einfache Antwort auf diese Frage. Auf der einen Seite fällt es mir nach allem, was uns Jesus gezeigt hat, nicht so leicht, mir Gott als jemanden vorzustellen, der Menschen in seinem Zorn straft und züchtigt, indem er ihnen Krankheiten und Feinde schickt. Auf der anderen Seite müssen Liebe und Zorn vielleicht auch nicht unbedingt einander widersprechen. Wenn ich einen Menschen liebe, kann es mich gerade deshalb zornig und wütend machen, wenn ich sehe, wie dieser Mensch in sein Unglück rennt. Und wir erziehen unsere Kinder, weil wir sie lieben - auch wenn wir heutzutage auf Schläge und Strafen weitgehend verzichten. So kann ich mich auch als Christ in die Psalmen des Alten Testaments hineindenken und mich zum Teil in ihnen wiedererkennen. Ich möchte mich aber nicht gerne dazu drängen lassen, mir alles, was in den Psalmen steht, auch als Gebet zu eigen zu machen.

Ich habe einmal versucht, mich von dem biblischen Psalm zu eigenen Gedanken inspirieren zu lassen. Ich lese zuerst den Psalm und dann meine Gedanken dazu - vielleicht regt Sie das an, den Psalm zu Hause noch einmal zu lesen und Ihre eigene Version aufzuschreiben.

Psalm 6

GOTT, strafe mich nicht in deinem Zorn und züchtige mich nicht in deinem Grimm. Sei mir gnädig, GOTT, denn ich verschmachte, heile mich, GOTT, denn meine Gebeine sind erschrocken. Tief erschrocken ist meine Seele. Du aber, HERR, wie lange? Kehre wieder, GOTT, errette mein Leben, hilf mir um deiner Gnade willen. Denn im Tod gedenkt man deiner nicht, wer wird im Totenreich dich preisen? Ich bin erschöpft von meinem Seufzen, ich tränke jede Nacht mein Bett, mit meinen Tränen überschwemme ich mein Lager. Schwach geworden ist mein Auge vor Gram, matt geworden von allen, die mich bedrängen. Weicht von mir, ihr Übeltäter alle, denn GOTT hat mein lautes Weinen gehört. GOTT hat mein Flehen gehört, GOTT nimmt mein Gebet an. Es werden zuschanden, es erschrecken alle meine Feinde, sie werden zurückweichen, werden zuschanden im Nu.

Ich möchte in meinem Leben nie aufhören, dazu zu lernen. Ich möchte immer wieder erkennen, was ich falsch mache und was ich besser machen kann, auch wenn das weh tut. Und ich möchte das dann auch in meinem Leben umsetzen können. Ich kann das nicht alleine. Ich bin angewiesen auf Kritik und auf Unterstützung.

Ich möchte lernen, in Krankheit und Leid die Hoffnung nicht aufzugeben, dass es mir wieder besser gehen kann. Ich möchte auch erkennen, wo mich Krankheit, Unglück und Leid darauf hinweisen, dass in meinem Leben etwas nicht in Ordnung ist. Ich möchte lernen, Krankheit und Unglück zu ertragen, wo es nicht zu vermeiden ist, dabei aber dem Leben zugewandt bleiben und offen dafür, Liebe zu empfangen und Liebe zu geben, solange ich noch nicht tot bin.

Ich wünsche mir, mit meinen Mitmenschen in Frieden zu leben und mich mit meinen Feinden zu versöhnen. Ich wünsche mir, dass der Ungeist des Neids, der Konkurrenz und der Feinschaft überwunden wird durch den Geist der Liebe und der Freiheit.

21.8.19

Freiheit und ihre Grenzen

Die Grenze meiner Freiheit ist die Freiheit meines Nächsten.

Die Grenze der Freiheit meines Nächsten ist meine Freiheit.

Wo liegt diese Grenze?

6.8.19

Religion à la carte

In der NZZ vom 25. Juli 2019 (S. 33) schreibt Laila Mirzo: "Ein aufgeklärter Mensch kann sich von
Mohammed nur distanzieren. Ein Austritt aus dem Islam wäre die einzig logische Konsequenz." Reinhard Schulze hat in der NZZ vom 3. August 2019 (S. 35) eine Replik auf ihren Artikel veröffentlicht. Ich möchte hier nur dessen oben zitierte Schlusssätze kritisch in Frage stellen: Stimmt es, dass man aus dem Islam austreten muss, sobald man sich von Mohammed distanziert und ihn kritisiert?

(Ich verstehe "sich distanzieren von" im Sinne von "nicht in allen Punkten übereinstimmen mit", nicht im Sinne von "nichts zu tun haben wollen mit". Vielleicht hat Laila Mirzo es anders gemeint und ist der Ansicht, dass es bei Mohammed und beim Islam überhaupt nichts Gutes und Bedenkenswertes gibt. Dann gehen meine folgenden Überlegungen an ihrer Argumentation vorbei. Aber dann wäre ihre Argumentation auch höchst pauschal und fragwürdig.)

Ich denke, man muss eine Religion (oder eine Kultur) nicht als Paket einkaufen und komplett übernehmen oder komplett ablehnen. Man kann auswählen, was einem einleuchtet, verwerfen, was einem nicht gut erscheint, bewahren und pflegen, was ein wenig seltsam ist und womit man nicht viel anfangen kann, was sich aber früher einmal als sinnvoll bewährt hat und vielleicht in Zukunft wieder einmal hilfreich sein könnte.

Religionen verändern sich ja auch im Verlauf der Geschichte. Und zu jeder Zeit interperetieren und praktizieren verschiedene Anhänger*innen sie auf unterschiedliche Weise. Der religionsinterne Pluralismus und die Religionsgeschichte geben den Anhänger*innen einer Religion die Freiheit, ihre Religion zu verändern oder sie sich auf ihre Weise zurecht zu legen.

Diese Art der Religionsfreiheit ist nicht erst eine Errungenschaft der Moderne und des Säkularismus. Es hat sie schon immer gegeben (auch wenn es in den verschiedenen Religionen auch immer wieder Bestrebungen gegeben hat, diese religionsinterne Religionsfreiheit einzuschränken). Sie wird heute oft übersehen -  vielleicht wegen einer weithin mangelhaften Kenntnis der Religionen und ihrer Geschichte.




24.1.19

"Wurzeln"?

Ich habe keine Wurzeln. Ich bin keine Pflanze.

Das Gerede von den "Wurzeln", die Menschen angeblich haben, finde ich ziemlich irreführend.

Ich habe einmal irgendwo gelebt, wo ich schon lange nicht mehr gewesen bin. Jetzt ist es dort wahrscheinlich ganz anders als es damals war.

Das Leben dort hat vielleicht Spuren hinterlassen bei mir, oder auch Wunden und Narben. Ich rede vielleicht immer noch so ähnlich, wie man damals dort geredet hat. In meinem Unbewussten wirkt vielleicht nach, was man mir damals dort beigebracht, eingebläut oder eingeredet hat, wogegen ich vielleicht mein Leben lang angekämpft habe. Sind das Wurzeln? Zehre ich davon?

Wenn Menschen "Wurzeln" haben sollten, dann sollten sie auch das Recht haben, sie aus dem Boden zu reissen und woanders wieder einzupflanzen (oder sie in einen Topf zu pflanzen, den man leicht von einem Ort zum anderen bewegen kann).

Ähnliches Foto

Ausser Wurzeln brauchen Pflanzen übrigens auch noch Licht und Luft, Regen und Nährstoffe ...

Wo von "Wurzeln" die Rede ist, sind "Blut und Boden" manchmal nicht weit entfernt:



Ähnliches Foto

Wenn ich schon Wurzeln haben soll, dann sind sie da, wo ich bin, nicht da, wo ich einmal gewesen bin.

Aber vielleicht sagen sie ja, meine Wurzeln seien woanders, weil sie mich hier nicht haben wollen?

6.1.19

Die Weisen aus dem Morgenland


Matthäus 2,1 Als Jesus in Betlehem in Judäa zur Zeit des Königs Herodes zur Welt gekommen war, da kamen Sterndeuter aus dem Morgenland nach Jerusalem 2 und fragten: Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern aufgehen sehen und sind gekommen, ihm zu huldigen. 3 Als der König Herodes davon hörte, geriet er in Aufregung und ganz Jerusalem mit ihm. 4 Und er liess alle Hohen Priester und Schriftgelehrten des Volkes zusammenkommen und erkundigte sich bei ihnen, wo der Messias geboren werden solle. 5 Sie antworteten ihm: In Betlehem in Judäa, denn so steht es durch den Propheten geschrieben:

6 Und du, Betlehem, Land Juda, bist keineswegs die geringste unter den Fürstenstädten Judas; denn aus dir wird ein Fürst hervorgehen, der mein Volk Israel weiden wird.

7 Darauf rief Herodes die Sterndeuter heimlich zu sich und wollte von ihnen genau erfahren, wann der Stern erschienen sei. 8 Und er schickte sie nach Betlehem mit den Worten: Geht und forscht nach dem Kind! Sobald ihr es gefunden habt, meldet es mir, damit auch ich hingehen und ihm huldigen kann. 9 Auf das Wort des Königs hin machten sie sich auf den Weg, und siehe da: Der Stern, den sie hatten aufgehen sehen, zog vor ihnen her, bis er über dem Ort stehen blieb, wo das Kind war. 10 Als sie den Stern sahen, überkam sie grosse Freude. 11 Und sie gingen ins Haus hinein und sahen das Kind mit Maria, seiner Mutter; sie fielen vor ihm nieder und huldigten ihm, öffneten ihre Schatztruhen und brachten ihm Geschenke dar: Gold, Weihrauch und Myrrhe. 12 Weil aber ein Traum sie angewiesen hatte, nicht zu Herodes zurückzukehren, zogen sie auf einem anderen Weg heim in ihr Land.

13 Als sie aber fortgezogen waren, da erscheint dem Josef ein Engel des Herrn im Traum und spricht: Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter, flieh nach Ägypten und bleib dort, bis ich dir Bescheid sage! Denn Herodes wird das Kind suchen, um es umzubringen. 14 Da stand er auf in der Nacht, nahm das Kind und seine Mutter und zog fort nach Ägypten. 15 Dort blieb er bis zum Tod des Herodes; so sollte in Erfüllung gehen, was der Herr durch den Propheten gesagt hat: Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.

16 Als Herodes nun sah, dass er von den Sterndeutern hintergangen worden war, geriet er in Zorn und liess in Betlehem und der ganzen Umgebung alle Knaben bis zum Alter von zwei Jahren umbringen, entsprechend der Zeit, die er von den Sterndeutern erfragt hatte. 17 Da ging in Erfüllung, was durch den Propheten Jeremia gesagt ist:

18 Ein Geschrei war zu hören in Rama, lautes Weinen und Wehklagen, Rahel weinte um ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen, denn da sind keine mehr.

19 Als Herodes gestorben war, da erscheint dem Josef in Ägypten ein Engel des Herrn im Traum 20 und spricht: Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter und geh ins Land Israel. Denn die dem Kind nach dem Leben trachteten, sind tot. 21 Da stand er auf, nahm das Kind und seine Mutter und zog ins Land Israel.

22 Als er aber hörte, dass Archelaus anstelle seines Vaters Herodes König geworden war über Judäa, fürchtete er sich, dorthin zu gehen. Weil aber ein Traum ihn angewiesen hatte, zog er sich in die Gegend von Galiläa zurück 23 und liess sich in einer Stadt namens Nazaret nieder; so sollte in Erfüllung gehen, was durch die Propheten gesagt ist: Er wird Nazarener genannt werden.

***

Wahrscheinlich haben Sie die Geschichte vom Besuch der Weisen aus dem Morgenland etwas anders in Erinnerung gehabt, als sie in der Bibel steht. Von Königen ist in der Bibel nicht die Rede, sondern von Weisen oder Sterndeutern, griechisch „magoi“. Ihre Namen werden in der Bibel nicht genannt. Es wird auch nicht gesagt, wie viele es waren. Aus den drei Geschenken Gold, Weihrauch und Myrrhe hat man darauf geschlossen, dass es drei gewesen sind. Und sie kommen in der Bibel auch nicht zu einem Stall, in dem der kleine Jesus in einer Futterkrippe liegt, sondern zum Haus von Maria und Joseph in Betlehem. Nach dem Matthäusevangelium waren sie nämlich dort ansässig. Nach der Geburt Jesu mussten sie nach Ägypten fliehen und siedelten sich dann in Nazareth in Galiläa an. Im Lukasevangelium, dessen Weihnachtsgeschichte uns vertrauter ist, waren Maria und Joseph dagegen schon vor der Geburt Jesu in Nazareth ansässig und mussten wegen einer Volkszählung nach Bethlehem ziehen. Diese Volkszählung fand nach unserem heutigen Wissensstand im Jahr 6 oder 7 nach Christus statt. Nach dem Matthäusevangelium wurde Jesus aber noch unter der Herrschaft Herodes „des Grossen“ geboren, der im Jahr 4 vor Christus gestorben ist.

Man sieht an diesen Widersprüchen zwischen den Geschichten von der Geburt und Kindheit Jesu bei Matthäus und Lukas, dass es sich hierbei um mehr oder weniger frei erfundene Legenden handelt. Markus und Johannes und auch die übrigen Schriften des Neuen Testaments wissen von alldem nichts zu berichten. Eine Reihe von späteren Evangelien, die nicht in die Bibel aufgenommen wurden, erzählen dagegen noch viel mehr Geschichten über die Zeichen und Wunder, mit denen die Kindheit und Jugend von Jesus verbunden war.

Zum Beispiel das sogenannte Kindheitsevangelium des Thomas. Da spielt der fünfjährige Jesus, nachdem es geregnet hatte, am Übergang eines Baches. Er leitete das vorbeifliessende Wasser in Teiche um und liess es klar werden – und das alles, ohne seine Hände einzusetzen, allein durch das Wort. Aus weichem Lehm formte er zwölf Sperlinge. Er klatschte in die Hände, da breiteten sie ihre Flügel aus und flogen zwitschernd davon. Wenn ihn Kinder störten oder Erwachsene – besonders Lehrer – ärgerten, konnte er sie schon einmal mit Blindheit schlagen oder tot umfallen lassen – später aber auch wieder heilen und wieder auferwecken. Als einmal ein Kind beim Spielen vom Dach fiel und starb, liess Jesus ihn wieder auferstehen, und als sich ein junger Mann beim Holhacken den Fuss spaltete, heilte Jesus ihn. Im Alter von acht Jahren half Jesus einmal seinem Vater Joseph bei der Aussaat. Jesus säte nur ein einziges Weizenkorn aus – und erntete davon etwa 400 Liter Getreide.

Wie kamen die Christen dazu, sich solche Geschichten über Jesus auszudenken? Wahrscheinlich dachten sie, dass ein später so bedeutender Mensch wie Jesus schon in seiner Kindheit irgendwie aufgefallen sein musste. Vielen Herrschern und Berühmtheiten der Antike hat man später solche spektakulären Kindheitsgeschichten angedichtet. Man kann aber fragen, ob solche Geschichten dem entsprechen, was Jesus später als erwachsener Mann vertreten hat, was er gelehrt und gelebt hat. Sicher, Jesus wurde als Wundertäter verehrt, aber doch als einer, der Menschen geheilt und ihnen geholfen hat, nicht als einer, der Menschen durch seine Wundertaten eingeschüchtert hat. Jesus hat nicht versucht, Menschen durch Macht und Gewalt zu überzeugen, sondern durch Liebe und Freundlichkeit. Er hat sie gelehrt, auf Rache zu verzichten und den Mächtigen und Brutalen mutig und ohne Gewalt entgegen zu treten. Er hat sich foltern und kreuzigen lassen, um seine Freunde und Nachfolger zu schützen.

Im Vergleich zu den Geschichten über Jesus im Kindheitsevangelium des Thomas passen die Kindheitsgeschichten des Matthäusevangeliums besser zu dem, was später aus Jesus wurde. Sie sagen, dass sich in Jesus die messianischen Verheissungen der Heiligen Schriften erfüllt haben, die Verheissungen eines endzeitlichen Königs, der Israel von der Herrschaft fremder Völker befreien wird, der für Gerechtigkeit, Frieden und Wohlstand sorgt, in dessen Reich die Völker ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden und selbst Wölfe und Lämmer in Frieden zusammen leben. Matthäus war davon überzeugt, dass Jesus diese Verheissungen erfüllt hat – aber anders als man sich das gemeinhin vorgestellt hatte: nicht als Herrscher mit politischer Macht, sondern als Lehrer, als Heiler, als Tröster, als Visionär, als einer, der Menschen an einem Tisch zusammengebracht und mit ihnen gefeiert hat, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben wollten.

An den Sterndeutern aus dem Morgenland zeigt sich auf eine fast schon satirische Weise, wie Jesus die Erwartungen und Hoffnungen der Menschen zugleich erfüllt und enttäuscht hat. Im antiken Orient waren Sterndeuter hoch angesehene Gelehrte. Ihre Aufgabe war es, den Himmel zu beobachten und auf besondere Himmelserscheinungen zu achten. Man meinte nämlich, dass die Götter mit solchen Zeichen den Menschen Hinweise auf drohende Gefahren gaben oder auch auf günstige Gelegenheiten. Es gab umfangreiche Handbücher der Sterndeutung, aus denen man entnehmen konnte, was eine ungewöhnliche Himmelserscheinung bedeuten könnte. Aufgrund ihrer Beobachtungen, ihrer Kenntnisse und ihrer Fähigkeiten kamen die Sterndeuter zu dem Schluss, dass in Judäa ein Kind geboren worden war, das einmal König werden sollte. Sie begaben sich also mit wertvollen Geschenken, Gold, Weihrauch und Myrrhe, zum Königshof von Judäa. Doch dort wusste man nichts von einem neugeborenen König.

Der Stern führte die Sterndeuter zu einem ganz normalen Wohnhaus in Betlehem, wo ein ganz normales Ehepaar ein ganz normales Kind zur Welt gebracht hatte. Sie erwiesen der Familie ihre Ehrerbietung und lieferten ihre Geschenke ab. Was mag ihnen dabei durch den Kopf gegangen sein? Dass der Stern sie an der Nase herum geführt hatte? Dass dieses Kind einmal den judäischen Thron usurpieren würde? Je genauer man sich diese Szene der Anbetung der Könige vorstellt, desto mehr macht sie einen etwas komischen Eindruck, finde ich.

Doch das Lachen bleibt einem im Hals stecken, denn diese Szene bringt Jesus und seine Familie und alle männlichen Babies und Kleinkinder in Betlehem in akute Lebensgefahr, denn was die Sterndeuter ihm erzählt haben, versetzt den judäischen König Herodes in helle Aufregung. Aus Angst vor einem künftigen Konkurrenten richtet er unter den Knaben in Betlehem ein Gemetzel an. Auch diese Geschichte ist wohl erfunden, nach dem Vorbild des vom Pharao befohlenen Kindermords in Ägypten, aus dem Mose einst auf wunderbare Weise gerettet wurde. Jesus wird so zu einer Art neuer Mose – und seine Familie zu Flüchtlingen, die schliesslich in Galiläa eine neue Heimat finden.

Auch wenn die Geschichte vom Kindermord des Herodes wohl eine Legende ist – sie wäre Herodes durchaus zuzutrauen. Er hat während seiner Herrschaft über Judäa von 47 bis 4 vor Christus viel Gutes für sein Volk getan, ist aber zugleich auch über Leichen gegangen, wenn er den Verdacht hatte, dass Menschen seine Herrschaft bedrohen. 29 v. Chr. liess er seine Frau Mariamne hinrichten, im Jahr darauf auch seinen Schwager Kostobaros wegen einer Verschwörung. 7 v. Chr. wurden zwei Söhne Herodes von ihm des Hochverrats angeklagt und hingerichtet, zwei Jahre später ein weiterer Sohn, den er zuvor zum Thronfolger bestimmt hatte. 6 v. Chr. ging Herodes mit grosser Härte gegen Pharisäer vor, die das Ende seiner Herrschaft prophezeit hatten.

In der Geschichte von den Sterndeutern aus dem Morgenland verkörpert Herodes das brutale Gesicht menschlicher Macht, die von Jesus demaskiert und unterlaufen wird. Die Macht des Herodes stösst an ihre Grenzen bei einem wehrlosen Baby. Herodes‘ Herrschaft ist bald zu Ende. Er stirbt nach einer langen, schmerzhaften und ekelerregenden Krankheit. Von seinen Bauwerken sind heute nur noch Ruinen übrig. Jesus dagegen hat die Welt verändert – zum Besseren, darf man wohl sagen, auch wenn seine selbsternannten Nachfolger oft nicht den Versuchungen der Macht, des Reichtums und der Ruhmsucht widerstehen konnten und die Sache Jesu leider viel zu oft mit gewalttätigen Aktionen oder durch politischen Opportunimus verraten haben.

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Eine moderne Variante der Geschichte von den Weisen aus dem Morgenland stammt von Wolfgang Borchert und spielt in Deutschland kurz nach dem Ende des zweiten Weltkriegs – eine Zeit in der die Menschen in Deutschland in den Trümmern des Grössenwahns ihrer Regierung froren und hungerten:

Die drei dunklen Könige

Er tappte durch die dunkle Vorstadt. Die Häuser standen abgebrochen gegen den Himmel. Der Mond fehlte und das Pflaster war erschrocken über den späten Schritt. Dann fand er eine alte Planke. Da trat er mit dem Fuß gegen, bis eine Latte morsch aufseufzte und losbrach. Das Holz roch mürbe und süß. Durch die dunkle Vorstadt tappte er zurück. Sterne waren nicht da.

Als er die Tür aufmachte (sie weinte dabei, die Tür), sahen ihm die blaßblauen Augen seiner Frau entgegen. Sie kamen aus einem müden Gesicht. Ihr Atem hing weiß im Zimmer, so kalt war es. Er beugte sein knochiges Knie und brach das Holz. Das Holz seufzte. Dann roch es mürbe und süß ringsum. Er hielt sich ein Stück davon unter die Nase. Riecht beinahe wie Kuchen, lachte er leise. Nicht, sagten die Augen der Frau, nicht lachen. Er schläft.

Der Mann legte das süße mürbe Holz in den kleinen Blechofen. Da glomm es auf und warf eine Handvoll warmes Licht durch das Zimmer. Die fiel hell auf ein winziges rundes Gesicht und blieb einen Augenblick. Das Gesicht war erst eine Stunde alt, aber es hatte schon alles, was dazugehört: Ohren, Nase, Mund und Augen. Die Augen mußten groß sein, das konnte man sehen, obgleich sie zu waren. Aber der Mund war offen und es pustete leise daraus. Nase und Ohren waren rot. Er lebt, dachte die Mutter. Und das kleine Gesicht schlief.

Da sind noch Haferflocken, sagte der Mann. Ja, antwortete die Frau, das ist gut. Es ist kalt. Der Mann nahm noch von dem süßen weichen Holz. Nun hat sie ihr Kind gekriegt und muß frieren, dachte er. Aber er hatte keinen, dem er dafür die Fäuste ins Gesicht schlagen konnte. Als er die Ofentür aufmachte, fiel wieder eine Handvoll Licht über das schlafende Gesicht. Die Frau sagte leise: Kuck, wie ein Heiligenschein, siehst du? Heiligenschein! dachte er und er hatte keinen, dem er die Fäuste ins Gesicht schlagen konnte.

Dann waren welche an der Tür. Wir sahen das Licht, sagten sie, vom Fenster. Wir wollen uns zehn Minuten hinsetzen.

Aber wir haben ein Kind, sagte der Mann zu ihnen. Da sagten sie nichts weiter, aber sie kamen doch ins Zimmer, stießen Nebel aus den Nasen und hoben die Füße hoch. Wir sind ganz leise, flüsterten sie und hoben die Füße hoch. Dann fiel das Licht auf sie.

Drei waren es. In drei alten Uniformen. Einer hatte einen Pappkarton, einer einen Sack. Und der dritte hatte keine Hände. Erfroren, sagte er, und hielt die Stümpfe hoch. Dann drehte er dem Mann die Manteltasche hin. Tabak war darin und dünnes Papier. Sie drehten Zigaretten. Aber die Frau sagte: Nicht, das Kind.

Da gingen die vier vor die Tür und ihre Zigaretten waren vier Punkte in der Nacht. Der eine hatte dicke umwickelte Füße. Er nahm ein Stück Holz aus seinem Sack. Ein Esel, sagte er, ich habe sieben Monate daran geschnitzt. Für das Kind. Das sagte er und gab es dem Mann. Was ist mit den Füßen? fragte der Mann. Wasser, sagte der Eselschnitzer, vom Hunger. Und der andere, der dritte? fragte der Mann und befühlte im Dunkeln den Esel. Der dritte zitterte in seiner Uniform: Oh, nichts, wisperte er, das sind nur die Nerven. Man hat eben zuviel Angst gehabt. Dann traten sie die Zigaretten aus und gingen wieder hinein.

Sie hoben die Füße hoch und sahen auf das kleine schlafende Gesicht. Der Zitternde nahm aus seinem Pappkarton zwei gelbe Bonbons und sagte dazu: Für die Frau sind die.

Die Frau machte die blassen blauen Augen weit auf, als sie die drei Dunklen über das Kind gebeugt sah. Sie fürchtete sich. Aber da stemmte das Kind seine Beine gegen ihre Brust und schrie so kräftig, daß die drei Dunklen die Füße aufhoben und zur Tür schlichen. Hier nickten sie nochmal, dann stiegen sie in die Nacht hinein.

Der Mann sah ihnen nach. Sonderbare Heilige, sagte er zu seiner Frau. Dann machte er die Tür zu. Schöne Heilige sind das, brummte er und sah nach den Haferflocken. Aber er hatte kein Gesicht für seine Fäuste.

Aber das Kind hat geschrien, flüsterte die Frau, ganz stark hat es geschrien. Da sind sie gegangen. Kuck mal, wie lebendig es ist, sagte sie stolz. Das Gesicht machte den Mund auf und schrie.

Weint er? fragte der Mann.

Nein, ich glaube, er lacht, antwortete die Frau.

Beinahe wie Kuchen, sagte der Mann und roch an dem Holz, wie Kuchen. Ganz süß.

Heute ist ja auch Weihnachten, sagte die Frau.

Ja, Weihnachten, brummte er und vom Ofen her fiel eine Handvoll Licht hell auf das kleine schlafende Gesicht.

5.11.18

Eine Religion für Einfältige

„In jenen Tagen ergriff Jesus das Wort und sprach: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dies vor Weisen und Klugen verborgen, es Einfältigen aber offenbart hast. Ja, Vater, so hat es dir gefallen. Alles ist mir übergeben worden von meinem Vater, und niemand kennt den Sohn ausser dem Vater, und niemand kennt den Vater ausser der Sohn und der, dem der Sohn es offenbaren will.“ (Matthäus 11,25-27)

Wie bei sehr vielen Worten von Jesus in den Evangelien ist es auch bei diesem nicht leicht zu erkennen, ob es wirklich von Jesus stammt, oder ob es erst einige Zeit nach seinem Tod von den Verfassern der Evangelien oder älterer Jesusgeschichten Jesus in den Mund gelegt wurde. Die Vorstellung, dass Jesus der Sohn Gottes ist, der den Menschen seinen Vater offenbart, passt meiner Meinung nach gut dazu, wie einige Christen (nicht alle!) nach dem Tod Jesu über Jesus gedacht haben. Dass Jesus selbst vor seinem Tod über sich selbst so gedacht und so von sich selbst gesprochen hat, erscheint mir eher unwahrscheinlich – obwohl wir das natürlich nicht ganz genau wissen. Die Vorstellung, dass Jesus der Offenbarer seines Vaters ist, passt genau genommen auch nicht wirklich dazu, dass Jesus direkt vorher Gott dem Vater dafür dankt, dass er „dies vor Weisen und Klugen verborgen, es Einfältigen aber offenbart hat“, wei es „ihm so gefallen hat“ – und nicht weil Jesus als Sohn es so wollte. Dieses kurze Dankgebet könnte man sich schon eher im Mund des „historischen Jesus“ vorstellen.


In diesem Gebet bleibt allerdings völlig unklar, was „dies“ ist, das Gott den Weisen und Klugen verborgen, aber den Einfältigen offenbart hat. Es scheint, dass damit mehr oder weniger alles gemeint ist, was Jesus gelehrt und gelebt hat. „Verbergen“ und „offenbaren“ ist dabei wohl nicht so zu verstehen, dass den Weisen und Klugen die Lehre und das Leben Jesu verheimlicht wurden. Sie konnten durchaus davon wissen, aber es ist ihnen nicht zur „Offenbarung“ geworden, es hat ihnen nicht eingeleuchtet und ist ihnen nicht eingefahren, es hat sie nicht berührt und hat ihr Leben nicht verändert. Das liegt nicht an ihnen, und Jesus wirft es ihnen auch nicht vor. Ob uns etwas zur Offenbarung wird, uns berührt, einleuchtet, einfährt und unser Leben verändert ist nicht unsere Entscheidung, es geschieht mit uns – oder es geschieht eben nicht. (Mit der klassischen reformierten Dogmatik gesprochen: der Glaube ist ein Werk Gottes, nicht des Menschen.)
 

Wenn wir den Evangelien glauben dürfen, scheinen die Anhänger Jesu tatsächlich zu einem grossen Teil eher einfache und manchmal auch einfältige Menschen gewesen zu sein. Immer wieder wird davon erzählt, dass die Jüngerinnen und Jünger nicht verstanden haben, was Jesus mit seinen Lehren und Gleichnissen sagen wollte und ihn deshalb später im kleinen Kreis noch einmal fragten - oder sich nicht zu fragen getrauten. Oft verstanden sie, was Jesus sagen wollte, erst wenn er es ihnen noch einmal genau erklärte. Aber immerhin, sie verstanden es, während die Weisen und Klugen nichts damit anfangen konnten.
 

Ich nehme an, die Botschaft Jesu war für die Weisen und Klugen nicht zu schwierig und zu anspruchsvoll, sondern vielleicht eher zu schlicht und zu einfach. Die Weisen und Klugen waren es gewohnt, auf schwierige Fragen komplizierte Antworten zu geben. Das ist ja bis heute die Aufgabe von Fachleuten und Wissenschaftlern – und ich finde, man sollte das nicht verachten, sondern wertschätzen und honorieren. Ich habe die grösste Hochachtung vor Experten, die Dinge wissen, von denen ich höchstens einen blassen Schimmer habe. Zum Beispiel kann ich mir höchstens in schwachen Ansätzen vorstellen, wie es funktioniert, dass durch diesen Kirchenraum gleichzeitig tausende Mobilfunkgespräche oder mobile Datenströme fliessen, von denen jeder genau den Empfänger erreicht für den er bestimmt ist, ohne dass es zu einem Datensalat kommt. Ich habe den grössten Respekt vor denen, die bis ins letzte Detail wissen wie das funktioniert oder die sich überhaupt erst ausgedacht haben, wie man so etwas bewekstelligen könnte. Das müssen wahrhaft „Weise und Kluge“ Menschen sein.
 

Warum sollen solche „Weise und Kluge“ Menschen grössere Schwierigkeiten damit haben, die Botschaft Jesu zu verstehen, als „Einfältige“? Vielleicht, weil die Botschaft Jesu nicht zu schwierig für sie war, sondern zu einfach? Ich kann es mir kaum anders erklären! Spielen wir es einmal an einigen Grundelementen der Botschaft Jesu durch.
 

Nach den Evangelien hat Jesus seine Lehrtätigkeit damit begonnen, dass er in Galiläa herumgezogen ist und verkündet hat: „denkt um, ändert euer Denken und Handeln, denn das Reich Gottes ist nahe“. Viele Juden waren damals der Ansicht, dass Gott die Welt der Herrschaft der Weltreiche unterstellt hatte, wie es im Buch Daniel dargestelt wird. Auf die Assyrer folgten die Babylonier, die Meder, die Perser, die Griechen und schliesslich die Römer. Irgendwann einmal aber würde Gott dem letzten Menschenreich ein Ende machen und selbst die Herrschaft über die Menschheit übernehmen (oder die Weltherrschaft einem seiner Engel übergeben). Manche dachten, wenn nur alle Israeliten einmal den Sabbat einhalten würden, würde das Reich Gottes kommen. Oder wenn alle Juden sich an die Reinheitsvorschriften halten würden oder wenn alle genau das mosaische Gesetz befolgen würde.
 

Jesus sah das sehr viel einfacher: wenn ihr anfangt, so zu leben, wie ihr im Reich Gottes zu leben hofft, dann fängt das Reich Gottes an. Hindern euch denn die Römer daran, eure Nächsten und eure Feinde zu lieben, zu segnen, die euch verfluchen, zu lieben, die euch hassen, denen zu vergeben, die euch Unrecht tun? Ihr könnt das, wenn ihr wollt, weil Gott es euch ermöglicht. Das Reich Gottes ist schon da. War das den Weisen und Klugen schlicht zu einfach? Dachten sie lieber darüber nach, ob man in den Heiligen Schriften Hinweise darauf finden könnte, wann das Ende der Weltreiche kommen würde und das Reich Gottes beginnen würde?

Jesus weigerte sich auch, Dinge von vornherein für Unmöglich zu halten. Ein Mensch ist  von einem Dämon besessen? Treiben wir ihn aus! Ein anderer ist blind? Öffnen wir ihm die Augen! Einer kann nicht laufen? Helfen wir ihm auf die Beine! Ein Mädchen ist tot? Wecken wir es auf! Die Evangelien sind voller Wundergeschichten. Es ist verständlich, dass sich die „Weisen und Klugen“ dafür nicht sonderlich begeistern konnten. Ich muss gestehen, dass ich auch manchmal denke, das sind doch eher Geschichten für etwas „einfältige“ Leute, die es nicht besser verstehen. Aber dann denke ich auch wieder: vielleicht lese ich ja diese Geschichten mit einer viel zu intellektuellen Brille. Vielleicht haben sich die einfachen Menschen mit solchen Geschichten vor allem Mut gemacht, sich von Jesus anstecken lassen, nicht zu schnell hinzunehmen, dass etwas angeblich unmöglich ist, sondern beharrlich auszuprobieren, ob nicht doch vielleicht etwas zu machen ist.
 

Was ist in der Geschichte der Menschheit nicht alles für unmöglich erklärt worden. Sklaven sollen die gleichen Rechte haben wie Bürger? Lächerlich! Sklaven sind doch keine vollwertigen Menschen! Frauen sollen abstimmen dürfen wie Männer? Völlig unmöglich! Kranke sollen nicht aus den Häusern gejagt werden und am Rand der Städte und Siedlungen vegetieren, sondern gepflegt und geheilt werden? Wie soll denn das gehen? Arbeiter sollen ein Recht auf regelmässige Ruhetage haben? Wo kämen wir denn da hin? Christen haben sich immer wieder geweigert, die Grenzen des Möglichen zu akzeptieren, welche die Weisen und Klugen herausgefunden haben. Das konnten die Weisen und Klugen nicht verstehen – bis sie den Erfolg der schöpferischen Fantasie der Christen gesehen haben, wenn diese etwa durch Krankenpflege und durch neue Therapien Krankheiten heilen konnten.
 

Das Reich Gottes fängt bei euch an. Wunder sind möglich. Eine weitere Lehre, die den „Weisen und Klugen“ wohl zu einfach war, aber vielen „Einfältigen“ eingeleuchtet hat, könnte man vielleicht so formulieren: soziale und ethnische Grenzen zwischen Menschen sind dazu da, sie zu überschreiten. Es wird immer wieder erzählt, dass Jesus mit einfachen Leuten, mit „Zöllnern und Sündern“ (und Sünderinnen) zusammen gegessen, getrunken und gefeiert hat. Ein Samaritaner, der einem Juden hilft, konnte als Beispiel für „Nächstenliebe“ dienen. Man sollte aber auch seine Feinde lieben und sich in der Synagoge lieber zu den „Sündern“ als zu den Selbst-„Gerechten“ setzen. Jesus liess sich von „Zöllnern“, also von Leuten die mit der römischen Besatzungsmacht kollaborierten und für sie Abgaben einzogen, einladen, und von einer reichen Frau mit kostbarem Parfüm die Füsse waschen. Ich kann mir gut vorstellen, dass die „Weisen und Klugen“ hier mehr Probleme sahen als die „Einfältigen“.
 

Die Nachfolger Jesu in den christlichen Gemeinden haben diese Praxis von Jesus weiter gepflegt. In den christlichen Gemeinden kamen Menschen ganz verschiedener Herkunft, ganz verschiedener sozialer Stellung, mit ganz unterschiedlichen Vermögen und Einkünften und mit ganz verschiedener Bildung zusammen und erachteten all diese Unterschiede für bedeutungslos. Unter den Christen, schreibt der Apostel Paulus im Brief an die Galater, Kapitel 3, „gibt es nicht Jude oder Grieche, nicht Sklave oder Freier, nicht Mann oder Frau. Denn ihr seid alle eins in Christus Jesus.“ Diese Gemeinschaft ohne Rangunterschiede war in der damaligen Konkurrenz- und Prestige-Gesellschaft vor allem für die einfachen Leute attraktiv und interessant, aber nach und nach habe sich auch immer mehr Wohlhabende und Gebildete dazu hingezogen gefühlt. Die Versammlungen der christlichen Gemeinden wurden zu ganz einzigartigen Inseln oder Oasen inmitten einer auf Wettbewerb, Leistung und Ehre fixierten Gesellschaft, in denen Menschen über alle Grenzen hinweg miteinander feiern und miteinander diskutieren konnten.
 
Wenn wir heute nach Wegen suchen, die Kirche wieder zu beleben und ihr wieder eine Bedeutung für die Menschen zu geben, wäre es mindestens einen Versuch wert, an diese Praxis Jesu und der ersten Christen anzuknüpfen: miteinander essen und miteinander trinken, miteinander sprechen, die Sorgen und die Freuden miteinander teilen, das Reich Gottes anfangen lassen und Unmögliches möglich machen. Vielleicht können wir dann auch einmal Gott dafür loben und danken, dass er den Einfältigen offenbart hat, worum es im Leben wirklich geht – und vielleicht lernen es dann sogar auch die Weisen und Klugen von den Einfältigen. Möglich ist alles. 
 

24.12.17

Simeon


Aert de Gelder - Het loflied van Simeon (ca. 1700-1710)


... Und da war in Jerusalem einer mit Namen Simeon, und dieser Mann war gerecht und gottesfürchtig; er wartete auf den Trost Israels, und heiliger Geist ruhte auf ihm. Ihm war vom heiligen Geist geweissagt worden, er werde den Tod nicht schauen, bevor er den Gesalbten des Herrn gesehen habe. Nun kam er, vom Geist geführt, in den Tempel. Und als die Eltern das Kind Jesus hereinbrachten, um an ihm zu tun, was das Gesetz des Herrn vorschreibt, da nahm er es auf die Arme und pries Gott und sprach:

Nun lässt du deinen Diener gehen, Herr, 
in Frieden, wie du gesagt hast,
denn meine Augen haben das Heil gesehen,
das du vor den Augen aller Völker bereitet hast,
ein Licht zur Erleuchtung der Heiden 
und zur Verherrlichung deines Volkes Israel.

Und sein Vater und seine Mutter staunten über das, was über ihn gesagt wurde. Und Simeon segnete sie und sagte zu Maria, seiner Mutter: Dieser hier ist dazu bestimmt, viele in Israel zu Fall zu bringen und viele aufzurichten, und er wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird - ja, auch durch deine Seele wird ein Schwert dringen -, damit aus vielen Herzen die Gedanken offenbar werden ... 

(aus Lukas 1, Zürcher Bibel)


So wie die Erzählungen über die wunderbare Empfängnis und Geburt Jesu soll auch diese Geschichte zeigen, dass Jesus von Anfang an ein ganz besonderer Mensch war. Aber auch Simeon ist eine bemerkenswerte Persönlichkeit.

Es genügt ihm zu sehen, dass der "Gesalbte des Herrn", der Messias, geboren ist. Er ist damit zufrieden, dass er "das Heil gesehen" hat, das doch in diesem Baby allenfalls erst zu erahnen ist. Er bittet nicht darum, die Verwirklichung dieses Heils mitzuerleben. Vielleicht ist er schon zu alt, als dass er noch so lange leben könnte, bis dieses Kind erwachsen ist? Es genügt ihm zu wissen, dass das Heil kommen wird. Wie Mose sieht er das verheissene Land, kommt aber selbst nicht hinein. Aber er äussert kein Wort des Bedauerns darüber. Das Schicksal des Volkes Israel und der Gesamten Menschheit ist ihm wichtiger als sein eigenes Heil.

Und Simeon rechnet damit, dass der Messias kein Heil im Sinne von "Friede, Freude und Eierkuchen" bringen wird, sondern Veränderungen und Diskussionen auslösen wird, die durchaus auch schmerzhaft sein werden. Vielleicht wäre Simeon selbst überrascht, vielleicht sogar enttäuscht gewesen, wenn er miterlebt hätte, was aus dem Baby geworden ist, das er auf seinen Armen hatte. Kein grosser politischer Anführer und Befreier, sondern ein Lehrer der einfachen Leute, Exorzist und Wunderheiler, am Ende von den Römern hingerichtet als vermeintlicher Rebell.

Vielleicht hätte es Simeon ja gefallen, dass das Heil etwas anders kam, als er es sich erwartet hatte. Dass es ihm genügte, seine allerersten Anfänge mitzuerleben, dass ihm das Heil der Menschheit viel wichtiger war als sein eigenes Heil, das macht ihn zu einer eindrücklichen Nebenfigur in der Geschichte Jesu.